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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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war, wurde sie schon mit fünf eingeschult. Wenn sie dann abends in ihrem Bett lag, das sie mit Ruthi teilte, stellte sie sich das Nachtleben ihrer Mutter vor. So, als säße sie im dunklen Pfarrsaal, lief vor ihrem geistigen Auge im Zeitraffer der Film ab mit all dem, was ihre Mutter in ihrer Fantasie mit ihren männlichen Begleitern so alles trieb: kiloweise Eis verdrücken, tagelang Karussell fahren, ohne dafür bezahlen zu müssen, sich mit Torten bewerfen.
    Teixel, ist das wenig!
    Das war sein zweiter Gedanke: Ja, das war wirklich verflucht wenig.
    Silvius Magnago hielt sich nun schon seit siebzehn Stunden im Meraner Kursaal auf: Am Vortag um Punkt zehn Uhr war die außerordentliche Vollversammlung der Südtiroler Volkspartei zusammengetreten. Anerkennung für die Delegierten: Klaglos hatten sie die Holzstühle aus der Reformationszeit ertragen, und jetzt, mitten in der Nacht, waren sie sogar noch zahlreicher erschienen als am Nachmittag. Da saßen sie vor ihm, die Befürworter und die Gegner des Pakets, die »Paketler« und »Antipaketler«, wie sie genannt wurden, und schauten ihn an. Wie lange arbeitete er schon an diesem Entwurf? Schon immer, so kam es Magnago vor. Nur die Kriegserinnerungen hinderten ihn daran, zu glauben, dass er sein ganzes Leben über nichts anderes getan hatte. Eben dies war auch sein letztes, stärkstes Argument gewesen bei seinem Appell an die Delegierten und der Erklärung, wie er abstimmen würde.
    »Zwanzig Jahre habe ich an diesem Paket gefeilt. Glauben Sie wirklich, meine Damen und Herren Delegierten, ich würde Sie auffordern, für das Abkommen zu stimmen, wenn ich jetzt nicht der festen Überzeugung wäre, dass wir mehr nicht erreichen können?«
    Und wieder einmal hatte er dargelegt, was für eine Katastrophe es wäre, wenn die Delegierten dem Paket – all den Maßnahmen, mit denen der italienische Staat der Provinz Bozen eine weitgehende Autonomie garantierte – die Zustimmung verweigerten. Er selbst würde als Parteiobmann sofort zurücktreten, aber das wäre nicht die gravierendste Konsequenz. Diejenigen jedoch, die ihn jetzt als »gekauft«, »Tolomei« und »Totengräber der Heimat« beschimpften, würden die Verhandlungen mit den Italienern auch wieder aufnehmen, allerdings ganz von vorn, von null anfangen müssen. Und er würde mit bitterer Befriedigung verfolgen, wie sie sich die Köpfe an der Tatsache einrannten, dass es ohne Kompromiss keine Lösung geben konnte. Früher oder später würden sie das erkennen, sie waren ja nicht dumm und handelten in guter Absicht. Doch in der Zwischenzeit verlöre man Jahre, Jahrzehnte. Wer könne schon sagen, wann es wieder einmal in der italienischen Politik, in der die Regierungen wie Kegel aufgestellt wurden und gleich wieder fielen, einen Mann gäbe, der bereit wäre, die Verantwortung für ein verbindliches Abkommen mit den Südtirolern zu übernehmen? Einen Verhandlungs- und Gesprächspartner wie Aldo Moro, der in den Artikel vierzehn die Feststellung geschmuggelt habe, dass der Schutz von Minderheiten im nationalen Interesse liege, natürlich ohne viel Aufhebens davon zu machen, wie er ihm unter vier Augen gestand, denn sonst hätten ihn seine eigenen Leute darüber stolpern lassen?
    Dies war der Tag der Entscheidung, oder besser die Nacht, denn schließlich ging es schon auf drei Uhr in der Frühe zu. Wenn die Südtiroler Volkspartei heute dem Paket zustimmte, wollte es die italienische Regierung im Parlament beraten lassen, wo es mit Sicherheit angenommen würde. Und dann könnten die Außenminister Italiens und Österreichs ihre Unterschriften daruntersetzen und damit die Befriedung ihrer Heimat Südtirol Wirklichkeit werden lassen.
    Würde jedoch die Vollversammlung seiner Partei das Paket ablehnen …
    »Vogel, friss oder stirb!« Klarer hatte es Magnago vor den Parteimitgliedern nicht ausdrücken können.
    Jetzt fühlte er sich erschöpft. Dabei war er sehr viel widerstandsfähiger, als seine ausgezehrte Erscheinung vermuten ließ, denn sonst wäre er schon längst zusammengebrochen. Die Mageren waren zäh, sagte man, und Magnago schien das zu bestätigen. Je mehr Stunden verstrichen, je länger die Debatte andauerte, desto kämpferischer wurde er. Er wusste, dass seine Leute sehr unentschlossen waren. Seit fünfzig Jahren wurden sie von den Italienern »über den Tisch gezogen«, wie es hieß, und groß war die Furcht bei den Delegierten, jetzt vielleicht das Falsche für die Heimat zu tun. Nein, jeder Einzelne

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