Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
die Instandhaltung der Pisten ihrer Zeit voraus, das Investitionsvolumen gesichert und eines großen Unternehmens würdig. All das würde dafür sorgen, dass sein »Baby« immer state of the art war, wie seine Kollegen aus Colorado es nannten.
Paul Staggl hatte sein ganzes Leben lang im großen Stil gedacht und geplant. Und damit würde er auch jetzt nicht aufhören, nur weil er die sechzig schon überschritten hatte. Der Wintersport brachte Reichtum. Ihm, seiner Familie, seinem Tal, Südtirol, ja den gesamten Alpen. Für ihn gab es keinen Zweifel: Die Zukunft strahlte wie eine verschneite Piste in der ersten Morgensonne. Und nun hatte sogar Hannes, auf der Schwelle zum dreißigsten Lebensjahr, endlich zu heiraten beschlossen und würde ihm vielleicht bald Enkelkinder schenken. Gewiss, auch an den Kindern der Töchter hatte man seine Freude, aber wenn der einzige Sohn Vater wurde, war das doch etwas ganz Besonderes.
Der Wintersport brachte Reichtum.
Paul Staggl war nicht mehr der Einzige, der das begriffen hatte. Wie Gerda kauften auch viele Bauern in jenem Jahr ihren Kindern zum ersten Mal neue Schuhe. Dafür mussten diese allerdings im Winter und im Hochsommer im Keller oder in der Kammer unter der Treppe schlafen. Denn ihre Zimmer waren Gold wert: In den wenigen Wochen der Hochsaison an Touristen vermietet, brachten sie mehr ein als Kühe, die ein ganzes Jahr lang gemolken wurden. Die Zeit der Bomben und Attentate war vorüber, und immer mehr Gäste waren Italiener.
Deren Verhältnis zu den Einheimischen gestaltete sich nicht immer ganz einfach. Häufig deuteten sie schon das Ausbleiben von Katzbuckeleien vonseiten mancher Vermieter, die ihnen mit der etwas raueren Freundlichkeit von Bauern begegneten, als Feindseligkeit. Kam eine Antwort auf Italienisch nur zögerlich oder war eine Speisekarte nur deutsch geschrieben, beklagten sich die italienischen Touristen.
»Wir sind hier aber in Italien!«
Umgekehrt zeigte manch ein Busfahrer auch seine ganze Empörung über die ungerechte Abtretung Südtirols nach dem Ersten Weltkrieg, indem er auf ein verbindliches Buon giorno nur mit einem ruppigen Knurren antwortete.
Allerdings irrten die Italiener, wenn sie glaubten, sie würden von manchen Südtirolern grantig behandelt: Tatsächlich verspottete man hier auch die Bayern als Saufbrüder, die Wiener als Schnösel und die Preußen als Angeber. Doch egal wie, Fakt blieb, und nur darauf kam es an: Die Touristen brachten das Geld, und Geld scherte sich nicht um Sprachen, um Grenzen, um die Historie.
Und offenbar auch nicht um Kleiderordnungen. Viele italienische Gäste hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, in Südtirol die typische Landestracht zu tragen und auch den Nachwuchs damit auszustatten. Scharen von Müttern und Töchtern aus Rom, Vercelli oder Florenz zeigten sich nun mit Dirndl und geblümter Schürze darüber und wirkten damit so uniform wie noch nicht einmal die Musikkapelle. Mailänder Kleinkindern wurden als Lätzchen Miniaturausgaben des traditionellen blauen »Bauernschurzes« um den Hals gebunden, dessentwegen Hermann in Mussolinis Zeiten noch verprügelt worden war.
Zunächst staunten die Südtiroler nicht schlecht über diese Maskerade (abgesehen von den Händlern natürlich, die mit Trach tenmode einträgliche Geschäfte machten), aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran. Für alle, die sie damals sahen, blieb aber jene neapolitanische Familie unvergesslich – Mutter, Vater und vier Kinder zwischen sechzehn und drei –, die eines schönen Tages im August lärmend die Hauptstraße des Städtchens ent langspazierte. Sie bot den Anblick von zwölf nackten, durch Makkaroniauflauf und Sartù wohlgenährten Oberschenkeln, die unter Lederhosen hervorquollen.
Auch Ulli blieb es nicht erspart, sein Zimmer in der Hochsaison für Touristen zu räumen und auf dem Speicher zu schlafen. Mit dem Geld, das dadurch hereinkam, konnte Leni den Eltern eine neue, resopalverkleidete Küche kaufen, wie man sie jetzt häufig im Fernsehen sah. Endlich konnte sie auch viele alte Möbel loswerden. Ein Mann aus Bozen war so freundlich, sie abzutransportieren und ihnen sogar noch ein wenig Geld dafür zu geben. Leni begriff wirklich nicht, was der Mann an dieser alten Truhe fand, die seit Generationen schon in ihrer Küche stand, oder an dem sperrigen, bemalten Schrank, der die Stube verdüsterte. Dass dessen Zeit vorüber war, erkannte man doch schon an dem Datum, das in der Mitte unter dem Fries zu lesen war:
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