Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
1773. Das Geld des Mannes nahm Leni dennoch gern an, denn schließlich war es nicht ihre Schuld, dass manche Leute keinen Geschäftssinn besaßen.
Unter den italienischen Gästen, die Jahr für Jahr wiederkamen, war auch eine Mailänder Familie mit drei Kindern. Sie schwärmten von dem herrlichen Blick auf die Gletscher, den der Hof ihnen bot, aber auch von der Gastfreundschaft Lenis und der ihrer Eltern. Mochten ihre Zimmervermieter vielleicht auch nicht sehr gesprächig sein und sich ihr mit Preco und Puongiorno * gespicktes Italienisch wie aus einer Karikatur anhören, so waren sie doch ehrliche, rechtschaffene, auf ihre Art sogar liebenswürdige Leute. Dass sich der Ehemann dieser jungen Witwe bei einem Attentat gegen den italienischen Staat selbst in die Luft gesprengt hatte, hätte die Mailänder Familie wohl niemals für möglich gehalten.
* »Preco« und »puongiorno« von ital. prego (bitte) und buon giorno (guten Tag).
Die jüngste Tochter dieser Mailänder Familie war in Evas Alter und hatte krause schwarze Locken, die ihren Kopf wie ein aufgeladener Heiligenschein umgaben. Dass sie eigentlich ein italienisches Stadtkind war, schien sie hier völlig zu vergessen. Sie hatte sich Ulli und Eva auf eine derart selbstverständliche Weise angeschlossen, dass die beiden gar nicht anders konnten, als sich darauf einzulassen. Mit italienischen Kindern aus ihrem Städtchen hätten sich Ulli und Eva nie im Heu getummelt oder Staudämme am Bachufer im Wald gebaut. Mit diesem Mailänder Mädchen schon. Aber vielleicht musste man auch nur bei den Nachbarn auf der Hut sein und konnte sich Bewohnern ande rer Welten gegenüber neugierig zeigen. Hätte sich dieses Mädchen allerdings als ihre Freundin bezeichnet, wären die beiden schon stutzig geworden, denn ein Freund verschwand ja nicht elf Monate im Jahr irgendwo in einem schwarzen Loch. Aber dieses Mädchen war klug, und deshalb nannte sie die beiden nie »Freunde«.
Ulli dagegen war immer schon Evas Freund gewesen.
Oder vielleicht war er zunächst auch nur ein Spielkamerad gewesen bis zu dem Tag, als ein anderer Junge nach der Messe auf dem Kirchplatz zu ihnen sagte, dass Ullis Vater den Tod verdient habe, weil er ein Verbrecher sei, und dass Evas Vater zwar lebe, aber nichts mit ihr zu tun haben wolle. Wie gar zu oft in seinem späteren Leben blieben Ulli die Worte, mit denen er sich hätte verteidigen können, im Halse stecken, verfaulten innerlich und vergifteten nur ihn allein. Und so war es nur Eva, die reagierte und dem Jungen zwei Finger ins Auge steckte. Seit diesem Tag waren Ulli und Eva unzertrennlich.
Im Gegensatz dazu war und wurde Sigi nie Evas Freund. Ullis Bruder gehörte für sie stets zu jenen unangenehmen Dingen des Lebens, die man nur ignorieren konnte: wie einen Splitter, der zu tief saß, um herausgeholt zu werden, wie einen Zahn, der wackel te, aber nicht ausfallen wollte, wie einen Vater, der nie da war. Und falls Eva überhaupt jemals in Versuchung war, Sigi sympathisch zu finden, so wurde diese Gefahr für immer an jenem Tag gebannt, als sie ihn dabei überraschten, wie er Trophäen anfertigte.
Leni hatte im Stall zu tun, und Eva und Ulli fanden Sigi, der fünf Jahre alt war, in der Stube vor. Er saß auf dem Holzfußboden, umgeben von Nägeln, Holzstückchen, einem Küchenmesser und einem Hammer. Und dann lagen da die enthaupteten Leiber verschiedener Stofftiere: eine Gans mit rot-weißem Gefieder, ein brauner Bär mit einem rotem Tuch um den Hals, ein Spürhund mit langen schwarzen Ohren. Die Köpfe dieser Stofftiere aber hatte Sigi auf Holzbrettchen genagelt.
Schweigend betrachteten sie die Szene, die zu bizarr war, als dass sie darauf prompt hätten reagieren können. Selbst Leni, die kurz darauf hinzutrat und die sonderbaren Jagdtrophäen entdeckte, verlangte keine Erklärung von ihrem Sohn. Sie hob nur den Blick zu den Holztafeln an der Wand, auf denen die einzigen Spuren befestigt waren, die ihr Mann, neben den beiden Kindern, auf Erden hinterlassen hatte: die Köpfe von Hirschen, Steinböcken und Gämsen, mit Geweihen, so spitz wie an dem Tag, da Peter sie geschossen hatte.
Hin und wieder suchten die Schützenbrüder die Witwe ihres früheren Kameraden auf, um sich zu erkundigen, ob sie irgendetwas brauche. »Nein, danke«, antwortete Leni nur, und ihre Gesichtszüge entspannten sich nicht mehr, bis die Männer endlich gegangen waren.
Auch Ulli verdrückte sich bald aus der Stube, wenn die Schützen zu Gast waren.
»Dein
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