Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Musikkapelle ihres Städtchens Klarinette gespielt hatte, wurde er in den Spielmannszug der Alpini in Rom aufgenom men. Die Hauptstadt gefiel ihm sehr, und viel mehr noch gefielen ihm die Römerinnen. Als er Ende Juni zum ersten Mal auf Urlaub nach Hause kam, war er bester Stimmung. Gleich am nächsten Tag sollte zu Füßen seines Namensvetters aus Granitgestein, des Alpinos auf seinem Sockel, eine abermalige Einweihungszeremonie stattfinden. Das Denkmal war wieder einmal rekonstruiert worden, sollte jetzt wieder wie früher aussehen.
Es waren seltsame Zeiten.
Eine Schar von Schützen hatte sich zusammengefunden, um gegen die Einweihung zu protestieren. Dies war zwar nicht ungewöhnlich, denn die Missfallensbekundungen dieser Männer in ihren Trachten gegen Symbole des italienischen Staates waren längst Routine. Nein, bizarr wirkte eher die Gruppe junger Leute, die sich vor dem steinernen Wastl versammelt hatten, um nicht nur gegen das Denkmal, sondern auch gegen die Schützen zu protestieren.
Es war verwirrend. Nicht zuletzt für Eva und Ulli, die ihren Onkel-Cousin in der Soldatenuniform begleiteten, um die Feier mitzuerleben.
Die Studenten reckten die Fäuste in die Höhe und riefen in zwei Sprachen Parolen gegen den »Nationalismus, gleich von welcher Seite«. Auch das war etwas, was man noch nie erlebt hatte: eine gemeinsame Demonstration junger italienischer und deutscher Südtiroler.
Dieses Wort »Nationalismus« hatte Eva noch nie gehört, und ratlos blickte sie zu Wastl hoch, dem aus Fleisch und Blut, der sie an der Hand hielt. Es tat ihr weh, dass da Leute etwas an dem Denkmal auszusetzen hatten, das man extra für ihn errichtet hat te. Sogar in Rom wollte man den geliebten Onkel-Cousin spielen hören, und ihrer Meinung nach hatte er sich so ein Denkmal mehr als verdient.
Obwohl sie inzwischen auf die sechzig zuging, wies der blonde Zopf, den Frau Mayer als Kranz um den Kopf trug, noch kein einziges graues Haar auf. Jeden Morgen verwandte die Hoteldirektorin fast eine halbe Stunde darauf, ihre Frisur exakt wie die ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter aussehen zu lassen. Auch wenn der Rest der Welt dazu übergegangen war, die Haare flattern zu lassen.
Schon seit einem Jahr rumorte es, und in diesem Herbst 1969 fanden die Streiks in den Bozner Stahlwerken noch größeren Zu lauf. Aber nicht nur die Metallarbeiter verschafften sich Gehör. In fast allen Branchen begannen sich die Beschäftigten bewusst zu werden, dass sie gemeinsam stark waren, und gestern noch Unerhörtes schien plötzlich möglich zu sein: dass sich Tellerwäscher, Hilfsköche und Köche eines großen Hotels zusammentaten und für einen gerechten Lohn streikten war keine verrückte Idee mehr, sondern ein Szenario, mit dem man rechnen musste, bedrohlich oder begeisternd, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete.
Das Personal in Gerdas Küche brauchte nur mit einem Streik zu drohen. Es war Ende Dezember und das Hotel voll. Schon nach wenigen Stunden gab Frau Mayer ihren Widerstand auf.
Von nun an entsprach der ausgezahlte Lohn den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden, bei allen, auch beim untersten Küchenjungen. Und die vier zusätzlichen Arbeitsstunden, die vom freien Tag abgingen, wurden nun auch bezahlt. Was Frau Mayer jedoch in den zurückliegenden Jahren an Sozialbeiträgen eingespart hatte, bekam niemand ersetzt. Als Gerda mit sechzig nach fast fünfundvierzig Arbeitsjahren in den Ruhestand ging und Ende des Monats auf dem Postamt ihre Rente abholte, rechnete sie sich immer die Differenz aus zwischen dem ausgezahlten Betrag und dem, was sie bekommen würde, wenn Frau Mayer sich damals nicht jahrelang an ihrem Altersgeld bereichert hätte. Und nachdem sie dann zu Hause den Umschlag mit der bescheidenen Summe auf das Häkeldeckchen beim Fernseher gelegt hatte, holte sie jedes Mal eines der schönen bunten Gläser aus der Anrichte, die Eva ihr einmal Weihnachten geschenkt hatte, schenkte sich ein Gläschen ihres geliebten Limon cellos ein und trank auf diese mutige junge Frau, die sie nie ken nengelernt hat te: jene Kellnerin, die es damals in jungen Jahren als Einzige gewagt hatte, sich gegen die Ausbeutung zu wehren, und dafür mit dem Schimpfnamen »Gewerkschafterin« belegt und entlassen worden war.
Mittlerweile war Vito Anania drei Jahre in Alto Adige, die er größtenteils unter extremen Bedingungen patrouillierend und wachend an der Staatsgrenze verbracht hatte. Durch seine Beförderung vom Vicebrigadiere
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