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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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auch vor, dass sich der Brigadiere Anania langweilte. Er war eben nicht so ein Typ wie etwa Sottotenente Genovese aus Neapel, der ewig auf der Jagd nach »Fräuleins« und Abenteuern war. Er fand ihn zwar ganz sympathisch, diesen Genovese, hielt es aber für besser, sich ihm nicht allzu oft anzuschließen. Zum 4. November, dem Jahrestag der Beendigung des Ersten Welt kriegs, organisierte Genovese im Hotel Marlinderhof ein Fest, eine »Sottufficial-Party« , wie er es nannte, als handele es sich um ein Filmfest. Er lud zwar auch Offiziere und Kommandanten ein, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie in holder Begleitung erschienen, womit, wie er ausdrücklich klarstellte, eben nicht die Ehefrauen oder Verlobten gemeint waren. Mit anderen Worten, ungebundene Frauen. Und wenn ihr Schwerpunkt weit oben lag, umso besser.
    Über hundert Angehörige der Carabinieri mit ihren Begleiterinnen erschienen. Auch Vito war darunter, begleitet von der Tochter des Metzgers, der ihr bis Mitternacht freien Ausgang gegeben hatte. Von einem Mann, der sparte, um die Schulden anderer zu begleichen, glaubte er erwarten zu dürfen, dass er ein Mädchen pünktlich nach Hause brachte. Und in der Tat überschritt seine Tochter um eine Minute vor zwölf die Schwelle ihres Hauses. Vito ging danach schlafen, obwohl das Fest da gerade erst in Fahrt kam. Das war ihm egal. Er hatte beobachtet, wie Genovese die Gäste in seiner Rolle als Zeremonienmeister zum Grappakonsum anhielt, dabei aber selbst keinen Tropfen trank. Er führte etwas im Schilde, da war sich Vito sicher, denn er kannte ihn gut, diesen Genovese, zog es aber vor, nicht dabei zu sein, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzte. Von den Abenteuern des Sottotenente Colonnello mit dem zu langen Haar und der bedenklich nachlässig zugeknöpften Uniformjacke ließ man sich gern erzählen, aber daran teilnehmen, nein, das war nichts für ihn.
    Vito war also nicht dabei, als Genovese, nachdem er sich überzeugt hatte, dass die von den Offizieren konsumierte Alkoholmenge ausreichen würde, um eine Leprastation zu desinfizieren, nun nicht mehr mit einer Schnapsflasche in der Hand zwischen den Gästen herumspazierte und auch nicht am Arm eines schönen Mädchens, sondern mit einem Fotoapparat mit eingebautem Blitzlichtgerät in der Hand.
    »Komm, gib dem Hauptmann einen Kuss«, forderte er die holde Begleitung eines Offiziers auf. Das Mädchen beugte sich zum schweißnassen Gesicht ihres Kavaliers vor und berührte es mit dem Mund, woraufhin Genovese den Auslöser betätigte wie den Abzug eines Gewehrs. Klick.
    »Gib dem Major einen Kuss …, gib dem Oberleutnant einen Kuss …, gib dem Oberst einen Kuss …«
    Die jungen Damen legten die knallroten Lippen auf die Stirn oder die Wangen der Offiziere, und »klick« machte es, »klick«, Genovese drückte ab.
    Am Morgen darauf ließ er Abzüge machen.
    Seine Vorgesetzten bekamen diese Fotos nie zu Gesicht. Das war nicht mehr nötig. Es reichte die Bekanntmachung, dass es solche Fotos gab. Fortan führte Genovese ein angenehmes Leben in der Kaserne.
    Auf einem der Fotos war auch Gerda zu sehen, aufgenommen in Begleitung eines vielleicht vierzigjährigen Obersten, der ihr gerade einen Kuss aufs Ohrläppchen gab. Sie ließ es geschehen, und ihre hohen Wangenknochen reflektierten das Licht wie poliertes Holz. Vielleicht würde sich Vito, wenn er das Bild gesehen hätte, bereits damals in sie verliebt haben. Aber er sah es nicht, weder er noch sonst jemand, auch nicht die Ehefrau. Tatsächlich hatte Genovese auch keinen Grund, es ihr zukommen zu lassen, denn von diesem Vorgesetzten wurde er künftig stets mit besonderem Feingefühl behandelt.
    Als Herr Neumann wegen verschiedener gesundheitlicher Probleme in Frührente ging, war er ganz beruhigt: Eine würdige Nachfolgerin stand bereit.
    Gerda rauchte stärker als ein defekter Dieselherd und arbeitete mit mehr Energie als jeder Mann. Die Küchenjungen würden alles für sie tun, die Hilfsköche nicht ganz so uneingeschränkt: Sie waren es nicht gewohnt, sich von einer fünfundzwanzigjährigen jungen Frau, einer »Exmatratze«, etwas sagen zu lassen. Aber das war eben das Schöne an diesen seltsamen Zeiten: Sie waren voller Überraschungen. Nach den zwölf Stunden täglich in der Küche ging Gerda abends noch tanzen.
    In ihren Briefen an ihre Tochter erzählte sie von »schmucken jungen Männern«, die sie zum Tanz ausführten. Eva hatte von Ulli lesen und schreiben gelernt, und weil sie so aufgeweckt

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