Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
hat.«
Wir durchqueren immer noch eine zeitlose Landschaft: Bäche mit klarem Wasser, im Sonnenlicht strahlende Forsythiensträucher, Feigenkakteen mit wie Korallenkolonien angeordneten Früchten, Olivenbäume mit ausladenden Kronen, unter denen ganze Familien Platz finden würden. Unter einem blühenden Mandelbaum sitzt eine junge Frau und stillt ihr Baby. Und erneut spannt sich über eine tiefe Schlucht eine Brücke der alten Eisenbahnlinie aus warmrotem Backstein. Nur dort, wo sie durch die Luft führt und deshalb nicht im Weg war, hat sich die Bahnlinie erhalten können, oder wo sie einer neueren Konstruktion einverleibt wurde.
Vielleicht verhält es sich ähnlich mit der eigenen Identität, die für den Menschen ja offenbar so wichtig ist: Nur wenn sie sich dem Lauf der Dinge entzieht, kann sie sich unverändert erhalten, sonst muss sie sich wandeln, oder sie stirbt.
Abwechselnd Tunnel und Blick aufs Meer und noch ein Tunnel und wieder ein Tunnel. Hinter Policastro mit seiner mittelalterlichen Stadtmauer aus grauem Stein in nächster Nähe zum Meer verlassen wir Kampanien.
1971
Weißer Schleier, langes weißes Gewand, Überwurf aus weißem Samt: Abgesehen von ihrer kindlichen Figur, sah Eva wie eine Novizin aus.
Gerda nicht.
Sie trug ein Kleid aus Chiffon mit aquamarinfarbenen Mustern, das nicht ganz so kurz war wie die Kleider, die sie zum Tanz anzog, aber fast. Über dieses »Fast« hatte sie sich viele Gedanken gemacht, lange überlegt, wie viel Bein sie anlässlich der Erstkommunion ihrer Tochter zeigen durfte. Nicht zu viel natürlich, um niemanden zu verletzen. Aber auch nicht zu wenig, damit niemand auf den Gedanken kam, sie wolle etwas verbergen. Gerda lag daran, offen zu zeigen, dass sie sich nicht schämte, eine freie Frau zu sein. Das Geld, mit dem sie Brot und Milch für sich und ihre Tochter kaufte, verdiente sie selbst und musste niemanden darum bitten. Und daher konnte sie auch selbst darüber entscheiden, wen sie in ihr Bett ließ und wen nicht.
Dennoch.
Sie musste sich sehr konzentrieren, um niemanden daran zu erinnern, vor allem sich selbst nicht, dass von den Müttern der Kommunionkinder nur eine nicht verheiratet war. Die ganze Messe über hielt sie daher den Blick auf die Kirchenfenster hinter dem Altar gerichtet, durch die das Licht auf die hässlichen Wandmalereien aus dem 19. Jahrhundert mit der Dar stellung der armen bärtigen Heiligen fiel. Nur hin und wieder senkte sie ihn kurz, und nur ein-, zweimal betrachtete sie die Kommunionkinder, darunter auch Eva, die in Erwartung des Sakraments in der ersten Bank vor dem Altar saßen. Die Mädchen wie Nonnen oder Bräute gekleidet, die Jungen wie kleine Zeremonienmeister mit Samtwesten und weißen Hemden darunter, die sauber, aber häufig von älteren Brüdern vermacht waren und daher abgetragen wirkten. Gerda drehte sich nicht ein einziges Mal zum Rest der Festgesellschaft um.
Auch Eva sollte sich später immer an den Tag ihrer Erstkommunion erinnern, allerdings aus einem anderen Grund, nämlich wegen der Skier.
Als sie damals nach der Feier heimkamen, standen diese vor der Tür des Hauses, in dem sie beide außerhalb der Saison in einem möblierten Zimmer lebten. Die Bretter waren länger als sie selbst, zitronengelb und sehr schwer. Noch in ihrem Novizinnengewand wollte Eva sie anprobieren, obwohl das kompliziert zu werden drohte. Vor allem die Bindungen machten ihr Kopfzerbrechen, denn obwohl sie den Fuß noch nicht hineingestellt hatte, schienen ihr diese Doppelzangen furchtbar beengend zu sein.
Gerda wurde sofort misstrauisch, als sie die Skier sah. Ihr Zimmer befand sich im Erdgeschoss des zweistöckigen neuen Hauses, dessen Etagen mit Wohnungen für Touristen eingerichtet waren, die jetzt im Mai leer standen. Das Haus lag am Rand des Städtchens, nicht weit von dem steilen Weg, der zu der Kapelle und den Höfen von Ulli, Wastl, Sepp und Maria führte. Neben dem Wohnhaus breitete sich ein in diesem Jahr brachliegender Kartoffelacker aus, und dazwischen zog sich ein weißer Kiesweg entlang, von Fliedersträuchern gesäumt, dessen weiße, rosa- und lilafarbenen Blüten ihren durchdringenden Duft verströmten. Und dort stand auch der cremefarbene 190er Mercedes. Hannes lehnte am Kotflügel, die Beine gekreuzt und mit dem Blick eines Menschen, der schon eine ganze Weile in die gleiche Richtung starrt: auf Gerda.
Die schlug die Augen nicht nieder, sondern hob den Blick ein wenig, sodass er gelassen hinwegglitt über diese
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