Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Vito dem Drang davonzulaufen widerstanden. Der Sottotenente Colonnello Genovese, sagte er zu ihr, lasse sich vielmals entschuldigen, er bedauere unendlich, die Verabredung nicht wahrnehmen zu können, aber er sei verhindert. Sollte sie jedoch mit einem Ersatz für eventuelle Abendbelustigungen vorliebnehmen wollen, so erkläre er sich höflichst dazu bereit. Er benutzte die steifen Formulierungen eines Offiziersrapports, aber in seiner Brust herrschte Aufruhr. Während er sprach, schlug sein Herz im Brustkorb so aufgeregt wie die Flügel eines frisch gefangenen Paradiesvogels im Käfig.
Erst jetzt nahm Gerda zum ersten Mal an Vito Eigenschaften wahr, die über die Erkenntnis, dass er nicht Genovese war, hinausgingen. Seine Figur war ganz ähnlich wie die des Neapolitaners: Auch er war klein, dunkelhaarig und besaß die ausgeprägte Nase antiker Seefahrervölker. Doch vom Charakter her hätten sie von verschiedenen Kontinenten stammen können. So laut und exaltiert Genovese war, so ernsthaft und zurückhaltend schien dieser Mann, dessen Blick im Übrigen auf ihrem Gesicht ruhte und nicht auf ihren Brüsten oder ihren Hüften unter dem eng anliegenden Kleid.
Sehr enttäuscht war Gerda nicht. In gewissem Sinne war es abgemacht, dass Genovese irgendwann wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, und eigentlich war er sogar schon länger als erwartet bei ihr geblieben. Sich den Abend verderben zu lassen passte nicht zu ihr, und so willigte sie ein, sich von Vito ausführen zu lassen.
Auch was diesen Abend betraf, stimmten ihre Wahrnehmungen später nicht überein. Vito behauptete, er habe sie noch zum Essen in die Trattoria beim Ponte Druso eingeladen; Gerda war sich dagegen sicher, dass sie sofort tanzen gegangen seien. Tatsächlich blieben nicht viele Bilder von diesen ersten Stunden ihres Zusammenseins in ihrem Kopf zurück. Sie wusste weder, welche Stücke die Tanzkapelle gespielt hatte, noch, wie ihr erster Tanz verlaufen war. Wahrscheinlich trat er ihr dabei auf die Füße, aber das war keine Erinnerung, sondern eine Schlussfolgerung: Ein guter Tänzer war Vito nie gewesen. Jedenfalls behielt Gerda nicht viel in Erinnerung von den Dingen, die der Carabiniere tat oder sagte. Was sie aber umso mehr beeindruckte, war das, was er unterließ.
Seine Hände, die sie bei den langsamen Tänzen umfingen, verzichteten darauf, Zentimeter um Zentimeter ihren Rücken hinunter in Richtung Pobacken zu wandern. Und nach dem dritten Bier versuchte er auch nicht, ihren Busen zu berühren. Nein, er trank es gar nicht, dieses dritte Bier, sondern beließ es bei einem. Als er sie nach Hause brachte, erwartete Gerda, dass er sie an der Tür küssen würde, doch dann stand er nur da, steif wie ein Wachsoldat, und ließ die Arme an den Seiten herunterhängen. Und tatsächlich war Vito den ganzen Abend wie auf Wache gewesen, denn nur so hatte er sich davon abhalten können, Gerda gleich auf der Tanzfläche zu lieben.
Und so war sie eigentlich ein wenig enttäuscht, als sie dann auf ihr Zimmer unter dem Dach ging und sich auszog. Ganz offensichtlich hatte sie dem Brigadiere Anania nicht besonders gefallen.
Am nächsten Morgen machte sich Vito sogleich auf die Suche nach Genovese. Kein leichtes Vorhaben, denn der Neapolitaner ließ sich in seinem Büro ungefähr so häufig wie bei entfernten Verwandten blicken, mit anderen Worten, nur bei besonderen Anlässen, und das auch nie lange. Als er ihn endlich gefunden hatte, fragte er ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn er, Vito, die Dame, die er gestern an seiner Stelle zum Tanzen ausgeführt hatte, noch einmal wiedersehe.
»Ach was«, antwortete Genovese, »ich habe mir schon gedacht, dass sie nach deinem Geschmack sein würde.«
Er sah Vito aufmerksam an. Das Gesicht des Brigadiere strahl te etwas aus, was ihn, ausnahmsweise einmal, verstummen ließ. Solche Gesichter verliebter Männer hatte Genovese schon viele gesehen und sich in dieser Hinsicht eine feste Meinung gebildet: Dabei kam selten etwas Gutes heraus.
»Weißt du, dass ihr Bruder Terrorist war?«
»War?«
»Ja, dieser Idiot hat sich selbst in die Luft gesprengt.«
Vitos Miene verfinsterte sich, während Genovese ihn mit Augen, so klein und spitz wie Stecknadeln, ansah.
»Anania, du bist anders als ich. Du bist eine ehrliche Haut. Pass nur gut auf! Die ist eine unverheiratete Mutter. Mit der kannst du deinen Spaß haben, mehr aber auch nicht. Vergiss das nicht.«
Doch Genovese wusste: Einem verliebten Mann das zu sagen war
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