Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken, doch die Band auf der Bühne mit dem unaussprechlichen Namen The We machte ihr das nicht leichter: Sie hatte gerade mit einem langsamen, sehr traurigen Stück begonnen, und die elektrische Gitarre heulte auf wie ein verletztes Tier.
Trampen.
Noch so ein lustiges Wort. Eva war sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hatte, was es bedeutete, doch wenn sie groß wäre, wollte sie das auf alle Fälle auch tun.
Km 96 0 – 1126
Wir sind wieder ein ganzes Stück vom Meer entfernt, die Halbinsel von Sorrent hat sich dazwischengeschoben. Seit wir Angri hinter uns gelassen haben, verbreitet sich, immer wenn der Zug die Fahrt verlangsamt, ein entsetzlicher Gestank nach verbranntem Gummi im Abteil. Es wird wohl an den Bremsen liegen.
Je südlicher wir kommen, desto weiter ist der Frühling vorangeschritten: Hier haben die Obstbäume schon keine Blüten mehr, sondern nur noch frisches Grün. An der Kreuzung zweier Schnellstraßen steht inmitten der Fahrbahnen eine Jugendstillaube aus Glas und Schmiedeeisen, filigran wie ein Pavillon in einem italienischen Garten. Ein der Schönheit geweihtes Tempelchen in der Einöde.
Die Gleise im Bahnhof von Salerno schimmern weiß von Desinfektionsmitteln oder vielleicht auch Kalk. Man scheint hier sehr darum bemüht, die Hinterlassenschaften der Flegel, die bei stehendem Zug die Toilette benutzen, unschädlich zu machen. Der Hügel, der sich über den Schutzdächern erhebt, ist mit Reihen völlig gleichförmiger Wohnhäuser überzogen.
Aber einen schönen Blick aufs Meer haben deren Bewohner immerhin.
Die beiden Amerikanerinnen steigen aus, mit dem Ziel Amalfiküste, vermute ich. Wieder wuchtet allein die Dicke beider Gepäck von der Ablage, die andere bleibt sitzen und sieht ihr mit unbeteiligter, verschlossener Miene zu. Dieses Mal habe ich keine Lust, ihr meine Hilfe anzubieten. Das korpulente Mädchen schnauft unter der Last ihres Rucksacks mit dem rosafarbenen Bärchen.
Dreh ihn doch einfach um, deinen Bären, würde ich ihr am liebsten zurufen, so kannst du doch nicht herumlaufen, mit einem kopfüber gehenkten Stofftier! Aber dazu fehlt mir der Mut. Es ist auch besser so, dergleichen macht keinen guten Eindruck, und auf Reisen ist man auf das Wohlwollen fremder Menschen angewiesen …
Vielleicht bin ich auch so empfindlich, was zweckentfremdete Stofftiere angeht, weil mich damals Sigis Enthauptungen zu sehr schockierten. Außerdem haben die beiden Amerikanerinnen das Abteil ohnehin schon verlassen, und zwar grußlos. Fast drei Stunden sind wir zusammen gereist, ohne ein Sterbenswörtchen miteinander zu wechseln.
›Aber glaub mir, irgendwann wirst du dieser magersüchtigen Schinderin noch ihren verdammten Rucksack ins Gesicht schleudern …‹
Bevor der Zug wieder anfährt, werden die freien Plätze neu belegt, von einem älteren Paar so um die sechzig sowie von einer jungen Frau von vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig Jahren in Bluse und Jeans. Sie hat schöne große Zigeuneraugen, aber eine ein wenig picklige Haut, worunter sie bestimmt leidet. Die ältere Dame, vermutlich ihre Mutter, sitzt mir gegenüber. Ihre Handtasche, die Jacke sowie eine pralle Einkaufstüte hält sie auf den Knien. Sie stellt nichts ab, obwohl neben ihr und mir noch zwei Plätze frei sind.
Von den Indern im Nebenabteil dringt lautes Schnarchen zu uns, das mindestens ebenso ausdrucksstark ist wie das »Hallo, hallo!« nicht lange zuvor.
Von Battipaglia an wieder Gewächshäuser, so weit das Auge reicht. Violett (Endiviensalat), hellgrün (Kopfsalat) oder rot (Tomaten) schimmert es unter dem Glas bis zu den ersten Häusern am Hang. Zwischen den Wohnblöcken sieht man sogar Zitronenhaine. Ein brachliegender Acker ist mit gelben, pinkfarbenen, violetten und blauen Blumen übersät, und auf dem Feld daneben glitzert das Grün des Weizens. Welche Farbenpracht dieses Land doch bietet.
Aus sattroten Backsteinen gebaut sind hingegen die elegant geschwungenen Bögen der Brücke, die zu einer stillgelegten Bahnlinie gehört. Die Spurweite ist extrem schmal, und so sehen die Gleise wie die einer Spielzeugeisenbahn aus. Möglich, dass sie noch aus der Zeit der Bourbonen stammt, als Neapel eine der modernsten Städte der Welt war.
Wir durchqueren einige kleine, unbewohnte Täler und dann das Städtchen Vallo di Lucania, bevor plötzlich die Backsteine der alten Eisenbahnlinie wieder auftauchen, eine weitere Brücke in dieser schönen, warmen
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