Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
sie wie die Tochter behandeln, die ich nie hatte.
Doch der Fluss ihrer Gedanken staute und brach sich an einem Satz, den Vito jetzt sagte.
»Allerdings gibt es da ein Problem.«
Etwas Kaltes überkam sie. Etwas Beklemmendes. Und eine Gewissheit: Jetzt sagt er mir, was es ist, das Hindernis, der Haken, die Schande. Instinktiv kniff sie den Mund zusammen, und die anderen Körperöffnungen auch, die weiter unten, wie jemand, der verhindern wollte, dass Kummer und Leid in sein Leben einzogen, und vor allem nicht in das des geliebten Sohnes. Aber sie wusste auch: Wenn sich Körpereingänge so zusammenpressten, waren Kummer und Leid bereits eingedrungen.
Aber.
»Sie hat …, sie ist um einiges größer als ich«, sagte Vito.
Wie eine kräftige, heiße Brühe an einem kalten Winterabend wärmte sie die Erleichterung. Zwar las sie in seinen Augen, dass es da noch eine Kleinigkeit gab, die er nicht erwähnte – einer Mutter entging so etwas nicht. Da sie aber auch nicht dumm war und in Anbetracht der Tatsache, dass er sie ihr verschwieg, wusste sie allerdings auch: Egal, worum es sich bei dieser Kleinigkeit handelte, über die er hinwegging, sie selbst musste sich nicht darum kümmern. Ihr Sohn würde sie aus der Welt schaffen, ganz allein.
»Was ist schon dabei?«, sagte sie also. »Dein Vater war auch kaum größer als ich. Bring sie mal mit, dann setze ich ihr eine gute ›Nduja‹ vor.«
Die Nachmittage nach der Schule verbrachten Eva und Ulli auf einem Himalajagipfel, genauer, auf dem Nanga Parbat. Ihrem Unterschlupf ganz oben auf dem Heuspeicher, dem hölzernen Balkon, dort, wo der Architrav die schrägen Dachbalken schnitt, hatten sie zu Ehren Reinhold Messners diesen Namen gegeben, jenes Bergsteigers, der die Achttausender nur im Vertrauen auf seine kräftigen Lungen ohne Sauerstoffflaschen in Angriff nahm. Auch sie selbst bestiegen den Nanga Parbat ohne künstliche Hilfsmittel, vor allem aber ohne Sigi: Für Ullis kleinen Bruder galt striktes Gipfelverbot. Als er einmal unbedingt mitkommen wollte, hatten sie ihn Yeti getauft, und weil Sigi so etwas Widerliches nicht sein wollte, hatte er sie fortan in Ruhe gelassen.
Eva war davon abgekommen, ihren Cousin Ulli zu ignorieren, wenn Gerda zu Besuch war. Nun erlaubte sie es ihm, sich ihr, ihrer Mutter und Vito anzuschließen. Der Brigadiere Anania beschränkte seine Zuneigung nicht auf Gerda und Eva, sondern bezog alle mit ein, die die beiden gernhatten. Also Maria, Sepp und Wastl. Und Ulli natürlich. Von jeher war für Eva die Gegenwart ihrer Mutter mit einem Gefühl von Knappheit verbunden gewesen: Sie eintreffen zu sehen hatte bereits die Furcht, sie wieder zu verlieren, mit eingeschlossen. Durch Vito hingegen hatte die Fülle Einzug gehalten, denn seine Wärme war so groß, dass sie für alle reichte.
Eva mochte es besonders, wenn sie hörte, dass Gerda und Vito sich über sie unterhielten. Gerade so wie ein richtiges Elternpaar. Einmal, als die beiden dachten, sie sei bereits eingeschlafen, bekam sie sogar mit, wie sie fast in Streit geraten wären.
Gerda erzählte ihm, dass sie Eva nach der mittleren Reife auf eine Hotelfachschule schicken wolle. Bei den vielen neuen Hotels, die jetzt aufmachten, würde sie so nie in Not geraten. Und vor allem würde sie dann nicht, wie sie selbst, eine Arbeit beginnen, ohne tatsächlich etwas zu können, außer sich die Hände von Ätznatron verbrennen zu lassen und sich beim Scheuern von Riesentöpfen einen krummen Buckel zu holen. Nein, Eva würde ihre erste Arbeitsstelle mit einem Diplom, einem Titel und Fachkenntnissen antreten. Sicher würde sie nicht als Chefköchin anfangen, aber als Hilfsköchin, ja, das schon.
»Nein! Eva muss ihr Abitur machen«, hatte Vito dagegengehalten. »Und vielleicht auch studieren. Sie ist intelligent genug, die Universität zu besuchen.«
Die Universität? Gerda war fast in Zorn geraten. Die Universität besuchten doch nur Kinder reicher Eltern, sagte sie, von Leuten, die ein dickes Bankkonto hätten und Beziehungen nach ganz oben. Sie hingegen habe ja nur ihre zwei Hände, und darauf sei sie stolz, und wenn er denke, dass Köchin ein Beruf sei, der …
Sie hatte innegehalten. Mit geschlossenen Augen im Bett lie gend, konnte Eva das Schweigen hören, dann das Geräusch feuch ter Lippen, die sich trafen, Vitos sanfte Stimme, die ihr zuraunte: »Du bist für mich …«, und schließlich nur noch ein undeutliches Gemurmel. Obwohl sie das Gesicht ihrer Mutter nicht sah, stand es ihr
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