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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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spielte. Ruthi folgte ihm, um ihm zu beweisen, dass er sie brauchte, was ihr aber nicht gelang. So war sie irgendwann nach Hause zurückgekehrt und hatte kurz darauf den ältesten Sohn eines Hofs auf der anderen Talseite geheiratet. Und mit nicht einmal achtzehn Jahren erwartete sie nun ihr erstes Kind.
    Paul Staggl war stolz, endlich auch Großvater geworden zu sein. Überhaupt hatte sich seine Schwiegertochter als her vorragende Mutter herausgestellt, die ihre Kinder mit fester Hand erzog, auch die weiteren drei, die noch folgten. Um sowohl seine Frau als auch die Kinder so wenig wie möglich zu sehen, brachte Hannes seine Tage im Büro des Vaters zu. Dadurch hatte er seine Kenntnisse in Sachen Seilbahnen, Ski pisten und vor allem der neuesten bahnbrechenden Erfin dung, der Schneekanonen, beträchtlich erweitern können. Den cremefarbenen 190er Mercedes Cabrio besaß er immer noch, ließ ihn aber die meiste Zeit in der Garage. Ins Büro ging er zu Fuß.
    Wie ganz Schanghai wurde Hermanns Haus kurzerhand abgerissen, um, wie es der neueste Bebauungsplan vorsah, Ferien wohnanlagen Platz zu machen. Mit seinen vierundsechzig Jahren wurde Hermann zum jüngsten Bewohner im Altersheim der Stadt. Das Personal empfand ihn nicht als besonders schwierigen Gast. Wenn er nicht aß oder schlief, brachte er seine Zeit damit zu, aus Brotkrumen Figürchen zu modellieren, von denen einige sogar in der Krippe zu sehen waren, die an Weihnachten in der Eingangshalle aufgebaut wurde. Besucht wurde er nie in diesem Altersheim.
    Als die Wintersaison in Frau Mayers Hotel vorüber war, sagte Vito zu Gerda:
    »Ich zeige euch Venedig.«
    Eva hätte stundenlang den Tauben auf dem Markusplatz nachrennen können, aber es gab ja so viel zu sehen. Mehr noch als die Straßen, die fast alle aus Wasser bestanden, oder die Gondeln, die wie schwarze Fische hindurchglitten, die Häuser, die nicht aus Stein, sondern aus Zuckerguss gemacht schienen, waren es die Menschen, die sie faszinierten. Die Stadt schien ein einziges großes Open-Air-Festival zu sein: Viele Touristen hat ten lange Haare, mandelförmig geschnittene Augen, milchig helle, bernstein- oder auch lederfarbene Haut. Die Röcke der Frauen waren sehr kurz oder knöchellang.
    Eine solche Vielfalt unterschiedlichster Menschen kannte Eva noch nicht. Verglichen mit diesen Menschen hier, hätten die Touristen, die in der Hochsaison in ihrem Städtchen herumliefen, alle miteinander verwandt sein können. In Venedig aber sah sie Amerikaner, Asiaten, Skandinavier, sogar Afrikaner. Was für eine schöne Hautfarbe sie doch hatten. Warum man sie allerdings »Schwarze« nannte, obwohl sie doch eher braun waren, war Eva nicht ganz klar. Und dann diese Japanerinnen – konnten die überhaupt richtig sehen durch ihre Schlitzaugen? Eva blinzelte, um es selbst einmal auszuprobieren, und stellte fest, dass sie schon etwas erkennen konnte, jedoch nur seitlich, oben und unten nicht. Dennoch bewegten die Japanerinnen seltsamerweise nicht den Kopf, um hochzuschauen; aber vielleicht interessierte man sich dort, wo sie herkamen, nicht für den Himmel. Während ein Passant von ihr, Gerda und Vito ein Foto machte, sah sie eine Frau, die eine Tischdecke trug, und einen Mann im Pyjama.
    »Inder«, erklärte Vito ihr, doch Eva wunderte sich nur noch mehr: Inder hatte sie sich immer mit Federn auf dem Kopf, Zöpfen und Mokassins vorgestellt. Du meinst Indianer, stellte Vito klar, das ist im Italienischen das gleiche Wort. Jedenfalls kamen sie von weit her und waren faszinierend anzuschauen. Dass sie und all die anderen Menschen hierhergekommen waren, erschien Eva wie eine Einladung. Wenn die ganze Welt Venedig besuchte, würde sie auch eines Tages die ganze Welt besuchen können.
    So liefen sie, Vito, Gerda und Eva in der Mitte zwischen ihnen, die Brücken und Stege hinauf und hinab, durchquerten Gasse auf Gasse. Wenn diese zu eng waren, gingen sie hintereinander und beschleunigten ihre Schritte, bis wieder ausreichend Platz war, um nebeneinander spazieren zu können. In einer kleinen Pension hinter der Kirche San Stae nahmen sie sich ein Zimmer. Der Hotelier, der sie an der Rezeption empfing, hatte dicke Ringe unter den Augen, weil er schon viele Jahre nachtschwärmerischen Gästen die Tür öffnen musste und nicht mehr richtig schlief. An Gerda wandte er sich mit »Signora« und sprach ihr gegenüber von »Ihrem Mann«, Vito gegenüber von »Ihrer Tochter«. Dann las er ihre Nachnamen in den Ausweisen und begriff, wie

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