Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
die weiße Klebebändchen mit der Aufschrift FCO tragen. Offenbar waren die Inder gerade erst auf dem römischen Flughafen Fiumicino gelandet, bevor sie in den Zug gestiegen wa ren, doch die Anstrengung der langen Reise hat ihrer guten Laune nichts anhaben können. Jetzt bewegen sie sich mit der italienischen Freundin auf die Unterführung zu, und ihr lautes Lachen ist noch eine Weile zu hören, als sie schon aus meinem Blickfeld verschwunden sind. In unserem Waggon ist es still geworden.
Ich schaue meine drei Abteilnachbarn an. Nur wir italienischen Staatsbürger sind geblieben. Ohne Touristen aus Amerika, Indien oder sonst woher ist er wirklich leer, dieser Osterzug.
Wir fahren noch nicht lange, als der pensionierte Polizist aus Messina plötzlich ausruft:
»Da hinten sieht man schon Sizilien!«
Seine Stimme klingt ein wenig ergriffen. Ich gehe hinaus auf den Gang und stelle fest, dass er recht hat: Die Stiefelspitze Italiens ist nicht mehr weit, und gegen die Sonne, die mittlerweile auf halber Höhe am Himmel steht, zeichnen sich die dunklen Umrisse Siziliens ab. Blickt man hingegen nach Norden, kann man durch die extrem gekrümmte Küstenlinie nicht nur Kala brien sehen, sondern auch die Basilikata und ein Stück von Kam panien. Den ganzen eleganten Bogen scheint man ausmachen zu können, den der italienische Stiefel von Neapel bis Sizilien beschreibt. In den Bergen besteht das Licht aus Luft und Wind, und der Frost schleudert es aus großen Höhen wie einen Dartpfeil ins Tal hinab. Dieses Licht hier ist dagegen wie eine zähe Flüssigkeit, die die Dinge nicht koloriert, sondern sich mit ihren Lebenssäften vermischt.
Zwischen der Festlandküste, die wir entlangrollen, und der Insel zieht ein dunkler Schatten seine Bahn durch das glitzernde Meer: wahrscheinlich ein Öltanker oder ein Riesenfrachter, der in Neapel Tausende chinesischer Container entlädt. Wie ein Geisterschiff gleitet er lautlos durchs Wasser. Für die Matrosen an Bord wird der Motorenlärm ohrenbetäubend sein, aber auf die Entfernung strahlt es etwas von der grandiosen Schicksalhaftigkeit der alten Überseelinien aus.
In solchen Momenten fehlt mir Ulli ganz besonders.
Als er starb, war Costa erst seit etwas mehr als einer Woche fort; die ersten drei Tage hatte Ulli zitternd auf meinem Sofa verbracht. Ich hatte auf ihn Tage eingeredet, dass er noch bleiben sollte, doch er wollte wieder in seinen Alltag zurückkehren. Die Arbeit mit Marlene, deren Maschinenkräfte zu steuern, würde ihm guttun, behauptete er. In jener Nacht war ich dann nicht bei ihm. Seit zwanzig Jahren frage ich mich schon, wieso ich nicht mitgekommen bin, um ihm Gesellschaft zu leisten. War ich bei einem Mann? Bat Ulli mich, zu Hause zu bleiben? Nein, das kann nicht sein, denn das hätte mich misstrauisch gemacht, und ich hätte ihn nicht allein gehen lassen. Warum war ich also nicht bei ihm? Ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich nur, dass ich, als das Telefon klingelte, in meinem Bett lag und allein war.
Ulli wollte nicht nach Berlin ziehen oder nach London oder Wien, wie ihm alle rieten. Aber er wollte auch nicht der schwule Sohn des Helden sein, der sein Leben für ihn geopfert hatte. Der brave Sohn einer besorgten Mutter, der sich das Hirn durch Elektroschocks braten ließ, während man ihm Pornobilder zeigte – eine Therapie, wie sie bestimmt dieser Arzt aus dem Sarntal im Sinn hatte, wahrscheinlich um selbst nach Lust und Laune Aufnahmen homosexueller Paare beim Geschlechtsverkehr betrachten zu können. Er wollte keine Frau heiraten, der er nur Kinder machen konnte, indem er die Augen schloss und sich vorstellte, dass sie ein Mann wäre, und der er irgendwann vormachen würde, er habe eine Geliebte, damit sie nicht entdeckte, dass er in Wirklichkeit auf öffentlichen Toiletten Befriedigung suchte. Nein, das alles wollte er nicht. Er wollte bloß er selbst sein und lieben dürfen, wen er liebte, und das dort, wo er geboren worden war.
Er wollte das Einzige, was unmöglich war.
Mit der Schneeraupe kletterte er die steilste Piste hinauf, dort, wo für den Weltcup trainiert wurde, 68 Prozent Steigung, ununterbrochen. Die Ketten fraßen sich durch den Schnee, während ihn die Seilwinde, die ihn sicherte, höher und höher zog. Oben angekommen, löste er das Seil, drehte die Schnauze der Schneeraupe dem Tal zu, gab Gas und löste die Bremsen. So habe ich es mir immer vorgestellt: Marlene, die Schneeraupe, die Ulli so lieb te wie ein Trucker seinen Lkw, wie ein
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