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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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die Dinge lagen. In den zwei Tagen ihres Aufenthalts bemühte er sich erfolgreich, Gerda nicht mehr direkt anzusprechen (»Signorina« zu sagen hätte als Kränkung empfunden werden können), und fragte auch nicht nach, wessen Tochter die Kleine nun war. Solch eine Situation erlebte er nicht zum ersten Mal. Paare ohne Ehering am Finger waren ihm schon mehr als genug unter die Augen gekommen, und gerade in den letzten Jahren hatte er Dinge gesehen, die er früher nicht für möglich gehalten hätte. Nein, das störte ihn alles nicht. Gerda aber zündete sich, als der Hotelier ihnen die Schlüssel reichte, eine Zigarette an, während Vito Eva das Glöckchen vom Tresen reichte und »Schau mal« zu ihr sagte. Doch sie wusste: Wenn ihre Mutter so ins Leere starrte und paffend den Rauch ausstieß, war irgendetwas nicht in Ordnung.
    Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall, war Gerda glücklich. Sie war in Venedig! Mit Vito! Und Eva! Wie in einem Schlager, einem Fotoroman, einem Film fühlte sie sich. In Filmen sah man, wie sich Verliebte, die Venedig besuchten, in der Gondel küssten, und Vito hatte gerade einen Gondoliere herbeigerufen. Auf dem mit rotem Samt bezogenen Bänkchen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.
    »Zeigst du mir die Amalfiküste auf unserer Hochzeitsreise?«
    Vito streichelte ihr Haar und drückte sie an sich, und Gerda bemerkte nicht, dass er dies tat, um ihr nicht in die Augen zu sehen. Dann jedoch sagte er:
    »Ich möchte dich heiraten.«
    Ich möchte war ungefähr das Gleiche wie Ich will , aber nicht ganz, deshalb richtete sie sich auf und schaute ihn an. Da gestand er ihr, dass er seiner Mutter nur von ihr erzählt hatte. Von Eva aber nicht.
    Eva, vorn auf dem Klappsitz, drehte sich nicht um.
    Vito redete leise, damit nur Gerda ihn verstand.
    »Wenn ich das nächste Mal runterfahre, hole ich es nach. Das verspreche ich dir.«
    Eva starrte weiter auf das Ruder, das der Gondoliere durchs faulige Wasser zog.
    Vito küsste Gerdas Gesicht. Sie ließ sich küssen.
    Eva betrachtete die kleine Bogenbrücke, die über ihrem Kopf hinwegzog, und dachte: Wenn die einstürzt und auf mich runter fällt, tauche ich unter und halte die Luft an und schwimme und schwimme, bis ich heil am Ufer bin.

Km 130 3 – 1383
    Hinter Vibo Valentia wird der Blick auf den vergoldeten Bogen der kalabrischen Küste immer wieder unterbrochen durch die donnernde Finsternis unzähliger Tunnel. Es ist ähnlich wie bei einem Film, der zu langsam abgespielt wird, sodass die schwarzen Streifen zwischen den Einzelbildern sichtbar werden. Dann verschwindet das Meer, wir sind wieder im Landesinnern, und nach jedem Tunnel tauchen sanft gerundete Hügel auf, die mit riesengroßen Olivenbäumen bestanden sind. Nun fahren wir unter dem Aspromonte hindurch, einem endlos langen Tunnel, so stockfinster wie die Verzweiflung.
    Ullis Sarg stand bereit, um in die Grube hinabgelassen zu werden, als ein alter Mann vortrat, dessen Hände vom jahrzehntelangen Ziehen der Glockenstränge in der Kapelle gezeichnet waren.
    »Ich möchte noch etwas sagen«, begann er.
    Es war Lukas, der Küster. In der Kirche war er nicht ans Lesepult neben dem Altar getreten, so wie Sigi und noch einige andere, um mit lauter Stimme und großer Sorgfalt über die Umstände und die Hintergründe von Ullis Tod hinwegzugehen. Auch ich hatte mich nicht erhoben, ebenso wenig wie bei der Kommunion, zu der ich schon nicht mehr ging, seit der Pastor, nach Vitos Abreise, meine Mutter wie ein verirrtes oder besser gebrochenes Schäflein wieder in seinen Stall aufgenommen hatte. Lukas war seit fast vierzig Jahren Küster in der kleinen Kirche unterhalb der Gletscher, aber kaum jemand erinnerte sich, mal seine Stimme gehört zu haben. Anfangs zitterte sie, dann wurde sie fester.
    »Ich möchte hier allen erzählen, was ich durch Ulli gelernt habe.«
    Die Überraschung sorgte für vollkommene Stille, so, als habe der größte Redner das Wort ergriffen.
    »Wenn meine geliebte Anna noch lebte, würde ich es nicht tun …«
    Die Verblüffung war jetzt in gespannte Erwartung übergegangen. Bei Leni aber in Panik. Mit entsetzlichen, von ihr gar nicht verlangten Enthüllungen waren schon die Verluste zunächst ihres Mannes, dann auch ihres Sohnes einhergegangen, und nun starrte sie den Küster an und flehte innerlich, er möge sie verschonen.
    Doch Lukas fuhr fort. Vor über sechzig Jahren, sagte er, in seiner Kindheit, sei dieses Wort nicht nur verboten, sondern vor allem

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