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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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hatte die Stube der Hubers noch nie betreten. Wenn sie sich trafen, dann auf der Tenne des Hofes, auf dem sie zur Welt gekommen war. Manchmal brachte er ihr kleine Geschenke mit, ein langes Hirschgeweih etwa, in das er geometrische Figuren geschnitzt hatte, oder einen Strauß Auerhahnfedern, die wie Stahl glitzerten, oder ein Halstuch, das er auf dem Markt gekauft hatte. Leni, so hieß das Mädchen, nahm die Geschenke mit einem Lächeln in Empfang, das sie kostbar machte – wie ein Sonnenstrahl, der Katzenaugen wie echtes Gold glänzen lässt. Aber auch bei ihr war Peter nicht viel gesprächiger.
    Nein, die Hubers waren nicht dafür bekannt, unterhaltsame Gesellschafter zu sein.
    Einen Ausflug also. Mit Peter. Gerda hätte nicht sagen können, was von beidem ungewöhnlicher war. Tata und Mamme würden nicht mitkommen, erklärte er ihr, die interessierten sich nicht dafür. Und Annemarie auch nicht, die als Dienstmädchen bei einer Familie arbeitete und sonntags nur den halben Tag frei hatte.
    Lange bevor es dämmerte, brachen sie auf. Es war ein milder Herbst, aber so früh am Morgen nicht nur dunkel, sondern auch kalt. Gerda war überrascht, wie viele Menschen schon unterwegs waren, obwohl es bis zur Frühmesse noch lange dauerte. Sie strömten alle ins Zentrum des Städtchens, wo einige Lastwagen und Busse bereits die Motoren warmlaufen ließen. Gerda trug ihr Firmungskleid. Zweimal hatte Johanna es ihr schon weiter gemacht, doch über der Brust und an den Hüften spannte es, und bald würde es nicht mehr für sie abzuändern sein. Darüber trug sie ein Oberteil aus Walkloden, grau mit grünen Bündchen, und über den Schultern ein rotes Tuch. Peter hatte wieder dieselben Kleider angezogen wie damals in Bozen bei der Arbeitssuche. Einige Leute sah man in Tracht, die Frauen in langen Röcken, Schürzen aus schwerem, schimmerndem Samt und Spitzenchemisetten wie bei der Herz-Jesu-Prozession und die Männer in rot-grün gestreiften Westen, kunstvoll gemusterten Gürteln über den Lederhosen und Filzhüten mit Auerhahnfedern auf dem Kopf. Wer nicht in Tracht ging, hatte sich die feinsten Kleider herausgesucht, die er besaß.
    Gerda war die Jüngste. Als sie auf den Lastwagen stieg, mach ten ihr die Männer ehrfürchtig Platz, die Frauen boten ihr Roggenbrot und Holundersaft aus filzumkleideten Trinkflaschen an. Noch nie hatten sie so viele Menschen auf einmal angelächelt. Als die Fahrzeuge sich in einem Korso in Bewegung setzten, formierten sich die Scheinwerfer zu einer Lichtergirlande, die auf Gerda noch festlicher wirkte als ein brennender Adventskranz. Die Menschen auf dem Laster begannen zu singen, und mit noch kindlicher Stimme stimmte sie ein. Am Brunnen vor dem Tore sangen sie, Wo der Wildbach rauscht und Kein schöner Land – Lieder, in denen die romantische Liebe und die Liebe zur Heimat miteinander verschmolzen. Den Text kannte Gerda nicht, sie hatte noch nie mit anderen in solch einem großen Chor gesungen. Doch die Melodien waren eingängig, und die Töne klangen so vertraut aus den Kehlen wider, als kenne sie diese schon ihr Leben lang. Die kalte Luft strich ihr übers Gesicht, und sie empfand eine tiefe Freude, obwohl sie nicht wusste, wohin sie überhaupt fuhren und was so viele Menschen dort wollten. Denn das hatte Peter ihr nicht erklärt. Zum ersten Mal in seinem Leben aber beugte er sich zu seiner kleinen Schwester hinab und lächelte sie an.
    Als sie fast drei Stunden später am Ziel eintrafen, war Gerda eingeschlafen; ihr Kopf lag im Schoß der Frau, die ihr den Holundersaft angeboten hatte. In dem Moment, da der klapprige Laster mit ächzenden Bremsen hielt, schlug sie die Augen auf.
    Sie hatte das Gefühl, noch zu träumen, denn so viele Menschen beieinander hatte sie noch nie gesehen. Weder bei der Herz-Jesu-Prozession noch bei der Beerdigung des alten Grafen, als sich der Leichenwagen, von vier Rappen gezogen, einen Weg durch die Menschenmassen auf den mittelalterlichen Straßen des Städtchens gebahnt hatte. Peter half ihr vom Wagen, indem er sie wie eine Puppe unter den Achseln fasste und auf den Boden stellte. Gerda war von der Menge umringt, die sie drückte, hin und her schob, sie mitzog und bremste und wie ein verkehrt flie ßender Fluss die Steigung vom Bozener Becken zur Burgruine Sigmundskron hinaufströmte. Gerda drückte Peters Hand, hatte aber keine Angst. Im Gegenteil kam ihr die Menge wie ein lebender Organismus vor, wie ein beseeltes Wesen, dessen Gefühle, dessen Erregung sie

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