Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
spürte und das auf diese Weise sie selbst berauschte. Es war ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sogar ihr, dem gerade mal zwölfjährigen Mädchen, Wert und Würde verlieh. Sie fühlte sich stark, euphorisch, überzeugt, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon eigentlich. Niemals wieder in ihrem Leben würde Gerda, außer im Fernsehen, eine so große Ver sammlung sehen.
Es wurde ein milder Tag. Mitten im November ließ eine fast septemberwarme Sonne die Augen der Menschen strahlen, die einander anlächelten und sich grüßten, auch ohne sich zu kennen und obwohl sie aus verschiedenen Tälern stammten. Peter hatte recht: Was sich da vor der Burg Sigmundskron, dem Castel Firmiano, ereignete, war ein Fest, wie man in ganz Südtirol noch keines erlebt hatte.
Überall sah man Spruchbänder und Schilder. Auf vielen las Gerda: Volk in Not . Zwei Reihen Carabinieri flankierten den Umzug, schwarz wie Pech und mit roten Seitenstreifen an den Ho senbeinen entlang, sodass sie wie fremdartige Insekten aus sahen, die Hände auf den Maschinenpistolen. Mit angespannten Mienen beobachteten sie die Menge, die zu der Burgruine emporwanderte. Sie waren jung, einige noch sehr jung. Und sie hatten Angst, mehr Angst als die Menschen in dieser riesigen Menge, wie Gerda auf Anhieb verstand, als sich ihr Blick mit dem eines Polizisten kreuzte. Er war gar nicht so viel älter als sie selbst, achtzehn, höchstens neunzehn, und blickte ihr unverwandt in die Augen, als schenke ihm das ein wenig Trost. Gerda hatte schon begriffen, dass »die da« nicht zu dieser Sache gehörten, an der sie, Peter und all die anderen teilnahmen, sondern ganz im Gegenteil Vertreter jener »Gefahr« waren, in der ihr »Volk«, wie es hieß, schwebte. Doch der Carabiniere, mit der Mütze zu tief in der Stirn, blickte sie weiter so an, als klammere er sich an den Liebreiz dieses Mädchens in dem zu engen Kleid, um die eigene Angst besser zu ertragen. Unwillkürlich lächelte Gerda ihn an, und der junge Polizist lächelte zurück. Da löste sich das Tuch um ihren Hals und fiel zu Boden. Instinktiv bewegte sich der Oberkörper des Carabiniere, wollte sich hinabbeugen, streckte die Hand, die nicht die MP hielt, aus, um das Tuch aufzuheben.
Der Kamerad aber, der neben ihm stand, fuhr plötzlich herum und starrte ihn an, ein harter Blick, der eine Meldung beim Vorgesetzten oder Schlimmeres ahnen ließ. Augenblicklich gefror das Lächeln des jungen Carabiniere zu einer Maske mit noch angespannteren Zügen als zuvor. Einen Moment lang zögerte er, dann kehrte sein Oberkörper in die geforderte kerzengerade, steife Haltung zurück. Gerda wandte sich ab, hob das Tuch vom Boden auf und ging weiter. Ihr Bruder hatte von dieser Szene gar nichts bemerkt. Er war von der Menge schon ein Stück weitergeschoben worden, dem höchsten Punkt des Hügels zu.
Menschentrauben lehnten an den Bäumen, drängten sich auf der Freifläche vor der Burg, auf den Erhebungen ringsumher, zwischen den Zinnen der verfallenen Befestigungsanlage. Gerda schien es, als wäre diese unübersehbare Menge ein gigantisches, alles überdeckendes Kraut, bestehend aus Fleisch, Kleidern, Haaren, Gesichtern, aus der Wiese gewachsen, sodass nun vom Gras nichts mehr zu sehen war. Nur das blutrote Porphyrgestein der senkrecht abfallenden Felsen, aus denen die Ruine wie ein verwunschenes Gebilde hervorzuwuchern schien, war zwischen den einzelnen Körpern noch zu erkennen.
Auf dem unter dem Burgturm errichteten Podest stand ein Mann. Gerda hätte nicht sagen können, was knöcherner wirkte, er oder die Krücken, auf die er sich stützte. Alt war er nicht, aber er sah krank und äußerst gebrechlich aus. Frontheimkehrer, die ihre Erinnerungen an den Krieg, der seit zwölf Jahren zu Ende war, am Leibe trugen, hatte Gerda viele gesehen, ausgemergelte Gestalten, Männer, die eine Hand oder den ganzen Arm verloren hatten oder aber ein Bein wie dieser hier, der jetzt zu der Menge sprach. Das Glied, das nicht mehr da war, schmerzte weiter, ein Schmerz, der in den restlichen Körper ausstrahlte und ihm, einem Vampir ähnlich, das Leben aussaugte und ihn verdorren ließ. Der abgemagerte Mann dort vorn schien unter solchen Symptomen zu leiden: Seine Stimme klang gepresst, metallisch, keineswegs wie die eines Redners. Und doch hörten ihm alle in gebannter Stille zu. Nur als er den Innenminister Tambroni erwähnte, musste er abbrechen, weil sich ein Pfeifkonzert erhoben hatte. Aber das brachte ihn nicht aus dem Konzept, er
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