Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Österreicher waren für ihn alle gleich, solange sie nur mit ihrem Geld die Kassen der Hoteliers füllten. Geld, das hatte Paul Staggl vor den meisten seiner Landsleute begriffen, stank nicht nur nicht, sondern kannte auch keine Volksgruppen. Geld, denaro, l’argent, the dough, la plata besaß keinerlei »Sprachgruppenzugehörigkeit« und würde sie auch niemals haben.
Paul hatte die Erstgeborene einer wohlhabenden Familie von Textilfabrikanten geheiratet. Seine vier Töchter waren in der Schweiz erzogen worden, fernab von diesem Tal mit seiner kargen, bäuerlichen Lebensweise. Schließlich galt es ihren Sinn für das Unwesentliche zu verfeinern, damit sie später auch Zugang zu den gutbürgerlichen Kreisen erhielten. Die Rechnung ging auf, und mittlerweile verkehrte Paul nur noch in der besten Gesellschaft des Städtchens. Kurz vor dem Krieg war ihm endlich auch ein männlicher Erbe geboren worden, ohne den der rasante Aufbau seines Vermögens aus dem Nichts heraus nur ein flüchtiger Erfolg gewesen wäre.
Zur Zeit der Feuernacht war dieser Sohn, Hannes Staggl, ge rade mal zwanzig. Vom Vater hatte er die keltische Hautfarbe, die fast durchscheinenden Augenlider und die grellen fuchsroten Haare. Was ihm allerdings fehlte, war dessen festes, bodenständiges Auftreten, sein freundliches, doch entschlossenes Lächeln, der eiserne Wille, den man hinter seinen verbindlichen Umgangs formen erahnte, kurzum all jene Eigenschaften, die Paul den Aufstieg ermöglicht hatten.
In seinem cremefarbenen 190er Mercedes raste Hannes durch die Straßen der Kleinstadt mit einer Eitelkeit, die auch etwas von Verzweiflung hatte. Hektisch wechselte er die Gänge, verschreckte mit kühnen Richtungswechseln das Mädchen, immer ein anderes, das neben ihm saß, berauschte sich an der Geschwindigkeit. Im Gesicht den peitschenden Fahrtwind, dazu die sinnlichen Klänge der »Negermusik«, die der tragbare Plattenspieler als Untermalung seiner waghalsigen Fahrweise ausspuckte, kam er sich wie in einem Hollywoodfilm vor. Doch die Staatsstraße durchs Tal war nicht die Route 66 und er nicht Rock Hudson. Und er raste auch nicht einem großartigen Schicksal, sondern höchstens Bozen zu. Und vor allen Dingen war nicht er es gewesen, sondern sein Vater, dem der spektakuläre Ausbruch aus dem düstersten aller Kerker, dem der Armut, gelungen war.
Es kam höchst selten vor, dass Paul Staggl seinem früheren Klassenkameraden Hermann Huber begegnete. Wenn sie sich zufällig irgendwo in dem Städtchen über den Weg liefen, hielten sie sich beide an eine stillschweigende Übereinkunft, das heißt, sie wurden von einem jähen Interesse für das Schaufenster eines Geschäftes gepackt, bückten sich plötzlich, um die Schuhriemen zuzuschnüren, verspürten den unaufschiebbaren Drang, einen Knopfverschluss zu prüfen. Niemand hätte die ausgebliebene Begrüßung zwischen den beiden Unhöflichkeit oder Verlegenheit zuschreiben können, noch viel weniger Pauls Dünkel oder Hermanns Neid. Nur einer Reihe zufälliger Umstände wegen, die unbedeutend sein mochten, aber doch objektiv gegeben waren, verfehlten sich ihre Blicke, sodass keiner von beiden die Verantwortung dafür übernehmen musste. Seit Jahrzehnten ging das schon so, und es gab keinen Grund, etwas daran zu ändern. Daher war es auch nicht ungewöhnlich, dass ihre Kinder sich nie kennengelernt hatten.
Eines Tages jedoch, auf der Rückfahrt von einer Spritztour, noch gelangweilter als gewöhnlich von der Bereitwilligkeit, mit der die Mädchen zu ihm in den cremefarbenen Mercedes stiegen, erblickte Hannes Gerda.
Er wusste nicht, dass sie die Tochter eines alten Schulkameraden seines Vaters war. Wusste nicht, dass sie als Kind die Sommer auf der Almhütte und die Winter als Dienstmagd verbracht hatte. Wusste nicht, dass sie seit einem Jahr nur noch die wenigen Monate in ihrem Städtchen wohnte, in denen die Hotels geschlossen waren, also zwischen Allerheiligen und Sankt Nikolaus und dann einige Wochen zwischen Ostern und Pfingsten. Das wusste er alles nicht, als er sie sah, und fragte sich lediglich: Wieso ist die mir nie aufgefallen? Wo hat sie sich versteckt seit ihrer Geburt, diese schöne Blonde mit den länglichen Augen, den Lippen wie Tulpen, dem ausgreifenden, doch weichen Gang, der ganz anders war, als er ihn von den Frauen im Tal kannte, die zwar auch lange, muskulöse Beine hatten, sich aber so kantig wie Männer bewegten. Wo hatte es bisher gesteckt, dieses junge Mädchen mit dem
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