Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Mitternacht, endlich. Ich spaziere zum Bahnsteig hinüber, wo der Zug bereits wartet. In der Ferne, jenseits der Güterwaggons auf den Abstellgleisen, jenseits der Hochspannungsleitungen, jenseits der Dächer und des Eingangs zum Val d’Isarco, dem Eisacktal, erkenne ich, vom Mondlicht erhellt, die Gipfel des Rosengartenmassivs, auf Italienisch Catinaccio, von catenaccio, »Sperrkette«. Das sind nicht nur zwei verschiedene Namen, sondern zwei gegensätzliche Arten, die Natur aufzufassen. Während über Lautsprecher die ankommenden und abfahrenden Züge angekündigt werden, scheinen die fernen und blassen Felsnadeln aus Dolomitgestein einer anderen Zeit anzugehören: märchenhaft und unerreichbar.
Der neapolitanische Liegewagenschaffner ist ungefähr dreißig, etwas übergewichtig und trägt keinen Ehering: Offenbar werden für die Feiertagsschichten Junggesellen eingeteilt. Er nimmt mei ne Fahrkarte entgegen.
»Die behalte ich und gebe sie Euch morgen wieder. Dann werde nur ich geweckt, wenn der Kontrolleur kommt, und Ihr nicht.«
Gut, er ist nur um meinen Schlaf besorgt, aber einen Augenblick lang fühle ich mich ihm ausgeliefert, so ohne Fahrkarte.
»Ihr seid ganz allein in dem Waggon«, fügt er freimütig hinzu. Und er spricht mich tatsächlich mit ›Ihr‹ an.
Aber es stimmt tatsächlich, ich bin ganz allein. Die Türen der anderen Abteile sind verriegelt. Schließlich haben wir Karsamstag, wer zu Ostern Verwandte besucht, befindet sich längst bei ihnen, und wer zwei Wochen Urlaub genommen hat, ist schon irgendwo im Süden am Meer. Normalerweise wäre ich jetzt ja auch bei meiner Mutter, aber ich fahre zu Vito. Ich habe also das Abteil ganz für mich allein. Das Licht ist eingeschaltet, und ordentlich zusammengefaltet erwartet mich die Wolldecke mit dem Relief-Logo der Ferrovie dello Stato , ein Handtuch und ein Paar Frotteepantoffeln. Mit einem Quietschen hat sich der Zug in Bewegung gesetzt.
»Möchtet Ihr einen guten Espresso nach dem Aufwachen?«
Der Schlafwagenschaffner klopft noch ein paarmal, immer mit einem neuen Anliegen. Nach dem Kaffee ist er um meine Sicherheit besorgt. Er will sich vergewissern, dass ich von innen richtig abgeschlossen habe, und bringt mir bei, wie sich die Leiter für die oberen Liegen als Diebstahlsicherung nutzen lässt, indem man sie mit der Klinke so verhakt, dass sie krachend umfällt, wenn jemand versuchen sollte einzutreten. Dann verlangt er, dass ich sie selbst so anbringe, wie er es mir gezeigt hat, um mir zu beweisen, dass die Leiter, wenn er von außen an der Klinke rüttelt (das tut er), ein furchtbares Getöse verursacht (was stimmt), von dem ich aufwachen würde (was wohl auch stimmt, aber nur, falls ich überhaupt einschlafen kann, denke ich skeptisch). Noch einmal schärft er mir ein:
»Außer uns beiden ist niemand im Waggon.«
Er entfernt sich zu seinem Abteil ein Stück den Gang hinunter. Aber immer noch hat er etwas auf dem Herzen und ruft:
»Was ist, sollen wir die Heizung runterdrehen?!«
Vom »Ihr« ist er unvermittelt zum »Wir« übergewechselt.
Tatsächlich ist es zu warm, ich spüre schon einen trockenen Hals.
»Ja, gut …!«, rufe ich ebenfalls sehr laut, sonst würde er mich nicht verstehen. Zwischen seinem Abteil und dem meinen liegen mindestens weitere vier.
»Dann drehe ich sie aber morgen früh wieder auf, bevor es hell wird, um die Zeit wird es kalt …!«, brüllt er zurück.
»In Ordnung …«
So verständigen wir uns lautstark von Abteil zu Abteil, eine sehr intime, vertrauliche Situation wie bei einem alten Ehepaar, das sich zwischen zwei Zimmern seines Heims etwas zuruft. (Ich kenne das von meiner Mutter, wenn sie bei mir zu Besuch ist. In der Küche kocht sie und hält mir dabei schreiend einen langen Vortrag, über Ruthi zum Beispiel, während ich vielleicht am Telefon einem Kunden Rede und Antwort stehe. Ich habe ihr nie zu sagen gewagt, wie sehr mir das auf die Nerven geht.) Aber immerhin, würde Carlo sagen, hat sich der fürsorgliche Schlafwagenschaffner nicht aufgefordert gefühlt, mir etwas von einer unglücklichen Ehe zu erzählen. Vielleicht, weil er Junggeselle ist, auch wenn ich zwischendurch schon mal gedacht habe, dass er für die Nachtschicht vielleicht seinen Trauring abnimmt, man weiß ja nie, es könnte ja eine Signora im Waggon »ganz allein« sein … Aber wahrscheinlich ist er jetzt nur einfach müde.
Mit dem Gesicht zum Fenster strecke ich mich auf der Liege aus. Es ist fast schon eins, ich lösche
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