Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
abendliche Pfeife des Vaters; Holz , das neben dem Küchenherd aufgestapelt werden musste. Diese verbliebenen Wörter ragten so aus der Stille hervor wie manche Dinge nach einem Erdrutsch, der ein ganzes Dorf unter sich begraben hat, aus der Schlammschicht hervorschauen, alltägliche Gegenstände jenes Lebens, das gerade fortgerissen wurde: eine Stuhllehne, ein Topf ohne Henkel, ein Schuh.
Als er Gerda zum ersten Mal ansprach, sagte Hannes:
»Wo warschn bis iatz?«
Wo sie bis jetzt gesteckt habe, wie das sein könne, dass er sie bis dahin noch nie irgendwo in den Straßen ihres Städtchens getroffen habe. Sie erzählte ihm, dass sie seit nunmehr einem Jahr die meiste Zeit in Meran verbringe und dort in einer Küche arbeite. Während sie redete, entdeckte Gerda in Hannes’ Augen jenen Ausdruck wehrloser Verblüffung, den auch der Blick ihres Vaters damals gezeigt hatte, als er sie mit Mamme ansprach.
Und als sie es sah, wurde ihr plötzlich klar: Das war es, worauf sie unbewusst seit Jahren gewartet hatte.
Die Seilbahn, die viele Dutzend Skifahrer auf den Berg hinaufbringen und der Kleinstadt und ihren Bewohnern die Pforten des Wohlstands öffnen würde, war mittlerweile vom Konsortium fertiggestellt worden. Der Wald, der den Nordhang des Berges bedeckte, jenen Hang, den Paul Staggls Vorfahren verflucht hatten, weil er so steil war und im Schatten lag, dieser Wald mit seinen Lärchen, Zirbelkiefern und Rottannen war zur Hälfte verschwunden. Nun überzogen den Nordhang die geschwungenen Bänder der Skipisten sowie die fast gerade Linie, welche die Masten der neuen Anlage bildeten. In wenigen Wochen sollte die Einweihung stattfinden. Das Rot der Gondel für dreißig Passagiere würde sich vor dem Blau des Himmels abzeichnen. Und wenn sie an ihrem robusten Stahlseil über die Köpfe der Gästeschar schwebte – der Musikkapelle, der gesamten Bürgerschaft, des Bürgermeisters, vor allem aber über Paul Staggls, des visionären Unternehmers, dem die Realisierung des Projekts zu verdanken war –, dann würden alle begreifen, welch strahlende Zukunft das Tal vor sich hatte.
Vor der Einweihung standen nur noch die letzten Sicherheits überprüfungen an sowie eine Erste-Hilfe-Übung für den Fall, dass der Strom einmal ausfallen sollte. Hannes überredete die Arbeiter seines Vaters, ihnen beiden, Gerda und ihm, die Rollen der Testopfer eines vermeintlichen Zwischenfalls zu überlassen: Sie waren also zwei Skitouristen, die wegen eines plötzlichen Abfalls der Stromspannung in der Kabine festsaßen und darauf warteten, dass die Arbeiter sie befreiten.
Als Gerda an der Talstation der Seilbahn eintraf, hatte sie das Gefühl, eine Anlage zu betreten, die eher für Riesen als für Menschen konzipiert war. Die unter der Decke angebrachten gewaltigen Räder transportierten ein faustdickes Stahlseil, an dem die rote Gondel wie ein mit einer riesigen schwarzen Klammer an einer Wäscheleine befestigtes Tuch hing. Als sie den Pfeiler umkurvt hatte und sich ihr mit geöffneter Tür näherte, kam sie Gerda eher wie ein klobiger Autobus als ein zum Schweben geeignetes Gefährt vor, lächerlich und beängstigend zugleich. Hannes bemerkte ihr Zögern. Er hielt ihren Arm und half ihr hinein. Die Türen schlossen sich hinter ihnen, die gewaltigen Räder drehten sich wieder mit einem lauten Rauschen wie aus einem Hochofen, die Gondel zog an, hob vom Boden ab und schwebte davon.
Mit einem Male war es still geworden. Mehr als der wachsende Abstand zwischen dem Erdboden und ihren Füßen, mehr als die Baumkronen, die sie zum ersten Mal von oben sah, mehr als die Gletscher und Gipfel, die sich in der Ferne am Horizont abzeichneten, war es diese Stille, unterbrochen nur von gelegentlichen schwachen Windböen, die Gerdas Herz bis zum Hals pochen ließ. Es war nicht die Stille der Almweiden ihrer Kindheit in den wind- und mondlosen Nächten, wenn sie mit Michl, Simon und dem kleinen Wastl im Heu lag und Gruselgeschichten erzählt wurden. Denn damals war durch die Ritzen zwischen den Brettern der Berghütte der Widerhall eines unendlichen, umhüllenden Raumes zu spüren gewesen, zu dem sowohl sie, die vier Kinder, als auch der Sternenhimmel gehörten, die Rufe der Nachtvögel und das Grummeln der Berge. Es war eine Stille, die vom Klang unzähliger Dinge erfüllt war, die nichts und niemanden ausschloss. Hier hingegen trennten die Glasfenster der Gondel Gerda und Hannes von den Geräuschen der Welt, hielten sie fern: das Rauschen in den
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