Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
höchsten Tannenwipfeln, das Krächzen der Raben, die neben dem Seil herflogen, neugierig gemacht durch dieses eigenartige schwebende Ding, die Stimmen der Menschen in den mittlerweile nur noch winzigen Häusern unter ihnen. Wenn das Seil über die kleinen Rollen der Masten streifte, erzeugte es ein kurzes metalli sches Kreischen, das die Stille danach nur noch auffälliger mach te, eine Stille, die nur für sie beide gemacht schien. Gerda wandte Hannes den Blick zu. Und er schien auf diesen Moment gewartet zu haben, beugte sich zu ihr vor und küsste sie.
In diesem Augenblick blieb die Gondel plötzlich stehen und begann hin und her zu schaukeln. Doch Gerda erschrak nicht. Dieses Schaukeln über dem Abgrund, das alle in solch einer Kabine festsitzenden Touristen hätte zusammenfahren lassen, das ih nen Entsetzensschreie entlockt, Ohnmachtsanfälle und eine Massenpanik provoziert hätte, war für sie wie ein Zeichen: Es war der Moment, da sie den ersten Kuss ihres Lebens erleben sollte, mit Hannes. Das stand festgeschrieben, das war Schicksal. Das war es, worauf sie immer gewartet hatte. Und jetzt endlich wusste sie es.
Als Gerda einige Wochen später zur Wintersaison ins Hotel zurückkehrte, ließ sie sich von Nina die Karten legen. Sie wollte hören, dass Hannes sie liebte und jeden Augenblick an sie dachte, so wie sie an ihn. Sie wollte, dass die Kollegin von Liebe reden und sie selbst Gelegenheit erhalten würde, seinen Namen laut auszusprechen: Hannes!
Nina hatte ein lang gezogenes Gesicht mit dunklen Augen und einen schönen, aufrichtig wirkenden Mund, in dem ein paar Zähne fehlten. Ohne zu lächeln, schaute sie Gerda an.
»Er ist reich, nicht wahr?« Es klang, als wolle sie sich einen erkannten Defekt bestätigen lassen.
»Isch mir wurst« , antwortete Gerda. Ja, das war ihr wirklich egal, denn aufs Geld kam es doch nicht an, sondern auf die Liebe. Nina schüttelte skeptisch den Kopf. Sie legte sieben Watten -Karten verdeckt auf dem Tisch aus.
»Dreh eine um. Ohne zu überlegen.«
Gerda zauderte nicht und deckte die erste Karte links auf. »Eichel-Sieben.«
Nina betrachtete die Karte mit der betrübten Genugtuung eines Menschen, der das Schlimmste, das gerade eingetreten ist, schon lange vorhergesehen hat. Sie schaute zu Gerda auf und sagte:
»Du bist schwanger. Und dass der dich heiratet, kannst du vergessen.«
Km 35–230
Im Zug Fortezza–Bolzano sitzen mir zwei vielleicht sechzehnjährige Mädchen gegenüber, die eine blond, die andere dunkelhaarig. Sie sehen aus wie diese kurvenreichen Assistentinnen aus dem italienischen Fernsehen, die gern paarweise und halb nackt auftreten, in Sendungen, die meine Mutter angeblich nicht kennt, weil sie immer nur ORF, den österreichischen, schaue. In Wahrheit lässt sie sich stundenlang von diesen Shows berieseln. Die beiden Fahrgäste mir gegenüber treten im Zwillingslook auf: dunkle Jacken mit grauen Fellkragen, schwarze, extrem tief sitzende Hosen, die in schwarzen Stiefeln stecken. Wie uniformiert wirken sie. In Brixen steigen sie aus, dort liegt das Max, die größte Diskothek der Gegend. Karsamstag hin oder her, die Mädchen wollen tanzen.
Früher waren die Südtiroler Diskotheken – sofern es überhaupt welche gab – am Karsamstag immer geschlossen. Früher gab es im Max auch keine ›gay night‹ an jedem dritten Donnerstag im Monat. Schon gar nicht hätte ein Südtiroler Hotelier sein Haus im Prospekt als ›gay friendly‹ angepriesen (allerdings nur in den englisch gedruckten für die angelsächsische Kundschaft, aber nicht in den deutschen oder italienischen). Früher wurden natürlich auch nicht neben dem Schneebericht und den Öffnungszeiten der Apotheken im Internet jene Orte genannt, die für die homosexuelle Kontaktaufnahme infrage kommen (in meinem Städtchen sind das die Toilette des Busbahnhofs und der Park am Fluss).
In meiner Heimat war früher vieles anders. Ulli könnte es bezeugen.
Am Bozener Bahnhof muss ich wieder warten, der Liegewagen nach Rom fährt um Mitternacht. An einem Stand bestelle ich mir einen Espresso. Der Mann hinter der Bar ist freundlich und spricht so gut Italienisch wie Deutsch, mit ausgeprägtem Bozener Akzent, doch Gesicht, Hautfarbe und Gesten sind eindeutig maghrebinisch.
Wo wird er bei der Volkszählung wohl sein Kreuzchen ge macht haben? Auf dem Formblatt ›Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung‹ , jenem Ungetüm aus Silben und Konsonanten, das sogar Herrn Song verschreckt hat.
Es ist bald
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