Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
dieser absurden Lüge. Schließlich war es wie immer Elmar, der den Blick senkte.
In der Nacht, auf ihrer Pritsche in dem großen Raum unter dem Dach, in dem sie mit den anderen weiblichen Angestellten schlief, presste Gerda die Hand auf den entsetzlich schmerzenden Bauch. Sie hatte Fieber, Durchfall und Brechreiz, dann auch einige Krämpfe im Unterleib, die große Hoffnungen weckten. Aber mehr passierte nicht.
Die Petersilie hatte nicht funktioniert, und so versuchte es Gerda als Nächstes mit der steilen Treppe aus Zirbelkiefernholz. Sie führte hinauf zu ihrem Schlafsaal unter dem Dach, dem einzigen Bereich des Hotels, der nicht saniert, sondern unverändert geblieben war seit der Zeit, als die Gegend noch der Südzipfel des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs war und die gut situierten Wiener Bürger hier den Winter verbrachten.
Damit der Aufprall nicht abgefedert wurde, zog Gerda die Beine an, stieß sich mit den Ellbogen ab und stürzte sich die Treppe hinunter. Auf jeder Stufe schlug sie hart auf, fünfzehnm al insgesamt, Schläge gegen das Becken, die willkommen waren, aber auch gegen Rippen und Schultern, die nur schmerzten und nichts brachten. Unten angekommen, gerieten ihr einen Augenblick lang Hell und Dunkel durcheinander; schwarz und klebrig wie Pech war plötzlich das Licht, das durch das schmale Fenster einfiel, während die Schatten unnatürlich leuchteten. Dann rappelte sie sich hoch und schleppte sich taumelnd wieder hinauf.
Grau geworden durch die Zeit war das Zirbelkiefernholz der fünfzehn schmalen Stufen und in der Mitte leicht ausgehöhlt durch unzählige Füße, die dort über Jahrhunderte hinauf- und hinuntergelaufen waren. Die Maserungen, die das Holz durchzogen, bildeten Kämme und Senken, und die dunklen, länglichen Spiralen der Astlöcher sahen wie Miniaturgalaxien aus. Doch Gerda hatte keinen Blick für die Schönheit dieses uralten Holzes, stieg nur immer wieder bis zur letzten Stufe hinauf, setzte sich und stürzte sich hinunter.
Fünf-, zehn-, vielleicht auch zwanzigmal, sie wusste es nicht mehr, rumpelte Gerda die Stufen hinab. Irgendwann zählte sie nicht mehr mit. Von ihrem Steißbein in Schwingung versetzt, gab das alte Holz einen schönen, vollen Ton von sich wie ein Xylophon mit ihr als Klöppel. Irgendwann hatte sie das Gefühl, immer so weitermachen zu können, ihr ganzes Leben lang: die Stufen hinunterhoppeln, mit neuen Blutergüssen wieder hinauf steigen und dieses hölzerne, rhythmische Trommeln zu erzeugen, wütend und mutwillig, aber auch dumpf und gedankenlos, unkompliziert, fast freundschaftlich vertraut. Wenn sie dann unten vor der letzten Stufe lag, reglos, die Glieder wie eine schlaffe Puppe von sich gestreckt, pulsierten phosphoreszierende Schatten vor ihren geschlossenen Lidern und schienen alles Licht zu verschlucken. Einen Moment wartete sie und kroch dann auf allen vieren wieder hinauf.
Eva, das Klümpchen in ihrem Bauch, erreichten die Schläge lediglich gedämpft. Nur außerhalb hatten die Dinge Grenzen, die aneinanderstoßen, aufeinanderprallen, gegeneinanderschlagen, sich verletzen konnten. Sie war geschützt, für sie waren die Schlä ge nicht mehr als kleine Wellen auf dem grenzenlosen Ozean, der sie barg.
Schließlich lag Gerda fast bewusstlos am Fuße der Treppe. Sie hob den Blick. Jenseits des schmalen Speicherfensters trieben die Wolken rasch über die Berge, unerreichbar, unaufhörlich, un gerührt. Lange beobachtete sie die Formationen, ohne sie scharf wahrnehmen zu können. Gegen den Strich streichelten die dunk len Schatten der Zirruswolken die bewaldeten Hänge und das Gras der Almweiden, kraulten den nackten Fels der Schluchten und Gipfel, und ihr war, als könne sie das sanfte Rauschen dieser allumfassenden zärtlichen Berührung hören. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie dort lag, der Körper ein einziger Schmerz, ihr Kopf leer. Irgendwann stand sie langsam auf und schleppte sich, mit einer Hand an der Wand, den engen Flur entlang, der zu den Schlafsälen der Angestellten führte.
Sie hatte versagt.
Evas Augen waren nur zwei Kugeln, riesengroß im Vergleich zum übrigen Körper, und hatten weder Wimpern noch Lider, die sich hätten schließen können. Dennoch schlief Eva weiter ihren Fötusschlaf, den Schlaf von Geschöpf und Schöpfer zugleich, den Schlaf eines Gottes, der vom Beginn der Zeit träumt. Ihrer eigenen.
Km 230–295
Eine Viertelstunde zu Fuß von meiner Wohnung entfernt, über einen kurzen, steilen Pfad, der
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