Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
mir die Hand gibt, wirkt er wieder erwachsen und formgewandt.
»Ich heiße Nino.«
»Und ich Eva«, antworte ich und schüttele seine Hand.
»Ein schöner Namen, fast so schön wie Ihr …«
Den Trolley hinter mir herziehend, entferne ich mich gut gelaunt: Nichts beflügelt die Schritte einer Frau mehr als ein Kompliment. Auch meine Mutter weiß das sehr genau.
1963 – 1964
Herr Neumann und Frau Mayer hatten eine klare Abmachung. Sie würde ihm keine Steine in den Weg legen, wenn ihm so viel daran lag, diese Hilfsköchin wieder aufzunehmen, die sich ein Problem eingehandelt hatte – ein Problem, das mittlerweile zwei Monate alt war und dicke rosafarbene Wangen hatte und die hellen Augen der Mutter. Seit vielen Jahren schon verwöhnte der Chefkoch ihre geschätzten Gäste mit Tiroler Spezialitäten, vielleicht nicht übermäßig fantasievoll, aber immer perfekt zubereitet, und sorgte so dafür, dass sie im Jahr darauf zurückkehrten. Daher wollte sie ihm jetzt auch nicht seinen Wunsch abschlagen.
Frau Mayer war eine Frau um die fünfzig, die man als »klassische arische Schönheit« hätte bezeichnen können (und die seinerzeit auch tatsächlich so bezeichnet wurde ): schlanke Figur, Turnerinnenbeine, ein zwar nicht üppiger, aber durch den Dirndlausschnitt gefällig zur Geltung gebrachter Busen und ein dicker blonder Zopf, den sie um den Kopf geschlungen trug und dem nie, da waren sich alle sicher, auch nur ein einziges Haar entwischte. Da sie während des Faschismus zur Schule gegangen war, sprach sie ein gutes, fast gewählt klingendes Italienisch. Doch erst wenn sie mit ihren Gästen Hochdeutsch sprach, kam ihre Vorliebe für gute Umgangsformen voll zum Ausdruck. Aus Frau Mayers Mund waren den Personalpronomen »Sie« und »Ihnen« die Großbuchstaben, mit denen sie geschrieben wurden, überdeutlich anzuhören.
Alles an ihr wirkte kontrolliert. Nur eines nicht: Der Blick ihrer schönen blaugrünen Augen ließ erahnen, dass sie, anstatt Tag für Tag lächelnd ihre Gäste zu hofieren, ebenso ein Leben voller Ausschweifungen und Leidenschaft hätte führen können. Mit etwas Fantasie konnte man sich Frau Mayer auch als Vamp in einem Kabarett vorstellen, der die Männer an den Rand des Selbstmords treibt, als Kriegerin eines Barbarenvolkes mit Drachenblut am Dolch oder als wahrsagende Poetin mit einem guten Draht zu den Mächten der Unterwelt.
Vielleicht hatte gerade diese Neigung zum Exzessivem, die ihr Blick verriet, Frau Mayer dazu bewogen, auf eine eigene Familie zu verzichten und nur einem Gott zu dienen: dem Wohlergehen ihrer Gäste. Trotz ihrer zahlreichen Angestellten im Zimmerservice, im Speisesaal und in der Küche entging ihr kein Detail im Hotelbetrieb. Das korrekte Aufschütteln der Gänsedaunenkissen in den Zimmern mit den Birkenholzbetten, die Lieferung der Säcke mit dem Sägemehl, das auf dem Küchenfußboden verteilt wurde, die Tischdekorationen im Speisesaal, bestehend aus Trockenblumen und geflochtenem Stroh, oder die Wartung des Heizkessels – all diese Dinge durften nicht ohne ihre Zustimmung erledigt werden. Selbst die Auswahl der Musikstücke, die die Kapelle an lauen Sommerabenden auf der Terrasse zum Besten gab, erfolgte ihrem Geschmack entsprechend, der auf einem simplen Grundsatz basierte: ans Herz gehende Liebeslieder und nichts anderes. Wer einsam und melancholisch gestimmt war, durfte sich verstanden und aufgehoben fühlen in dieser Atmosphäre; wer in netter Begleitung war, nahm mitfühlend Anteil am Schicksal der weniger Glücklichen, und alle sprachen sie, zum Wohle des Hauses, großzügig den Getränken zu.
Das einzige Detail, das sich immer mal wieder ihrer Kontrolle entzog, war der Tod. Fast alle Gäste reisten nach Meran wegen der Thermalbäder und Heilwässer, um hier die verschiedensten Gebrechen zu kurieren. Entsprechend waren die meisten bereits im fortgeschritten Alter, was leider zur Folge hatte, dass ab und zu jemand von ihnen starb. Und manche Gäste waren, zum Leidwesen von Frau Mayer, sogar so rücksichtslos, dies auf ihrem Zimmer zu tun.
Auch hier dachte Frau Mayer natürlich nicht an sich selbst, sondern an ihre Gäste – die lebenden, genauer gesagt. Für die war es höchst unerfreulich, gerade in einer Zeit, da sie eine Bes serung der eigenen Gebrechen erhofften, mit ansehen zu müssen, wie die Leiche eines Gleichaltrigen abtransportiert wurde. Aus diesem Grund hatte Frau Mayer mit einem lokalen Bestattungsinstitut einen Spezialservice vereinbart:
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