Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
der anderen nicht mehr gestört werden.
Gerda verstand das. Sie kannte ja die Erschöpfung nach einem langen Arbeitstag, kannte die bleischweren Glieder, die schmerzenden Gelenke, das benebelte Gehirn: Allein der Schlaf konnte, zumindest teilweise, das Wissen, dass es am nächsten Tag wieder von vorn losgehen würde, erträglich machen. Die Proteste waren also gerechtfertigt: Ohne ausreichend geschlafen zu haben, schaffte man es einfach nicht, den ganzen Tag mit dem Arm voller Teller zwischen Küche und Restaurant hin- und herzulaufen oder Dutzende von Zimmern tipptopp aufzuräumen, auch wenn dort Vandalen gehaust hatten, oder die Fußböden von vier Stockwerken plus der im Nebengebäude zu schrubben. Ohne Schlaf konnte man eigentlich auch nicht, so wie Gerda, in dieser überhitzten Küche am Herd stehen, Zutaten zerteilen, verrühren, kochen, aber für diesen Säugling war nun einmal sie verantwortlich – es war ihre Tochter, nicht die der Kolleginnen. Deshalb trafen sie eine Vereinbarung: Bis zum Stillen vor Tagesanbruch konnte Gerda im Zimmer bleiben. Aber danach musste sie hinaus.
Einige Wochen lang verbrachte Gerda die letzten Stunden der Nacht damit, mit ihrem Kind im Arm auf dem Flur hin und her zu wandern. Die Müdigkeit hielt sie wie eine undurchdringliche Mauer gefangen, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihr jemals zu entfliehen. Manchmal schlief sie auch auf ebenjenen Stufen ein, von denen sie sich, Monate zuvor, in der Absicht hinuntergestürzt hatte, kein vaterloses Kind im Arm halten zu müssen. Aber nun war Eva auf der Welt und legte das mit blondem Flaum überzogene Köpfchen in einer Haltung vollkommenen Vertrauens auf ihre Schulter.
Trotzdem hatte Gerda sich noch nie so alleingelassen gefühlt wie in dieser Zeit.
Es kam vor, dass sie tagsüber, während sie an der Arbeitsplatte stand, plötzlich einnickte. Einmal übermannte sie der Schlaf in der Gefrierkammer. Da hatte sie sich den schweren Mantel aus grober Wolle übergezogen und dem Müdigkeitsanfall nicht widerstehen können. Zwischen den reifüberzogenen Rindervierteln und Zickleinhälften sank sie zu Boden, und wäre Herr Neumann nicht kurz darauf selbst dort aufgetaucht, um einen Truthahnbraten auszusuchen, wäre sie wohl erfroren.
An diesem Tag bot Nina, die Kellnerin aus Egna, ihr an, sich während der »Zimmerstunde« um Eva zu kümmern.
»Ein paar Stunden Schlaf würden dir nicht schaden«, sagte sie, indem sie das Baby auf den Arm nahm.
Gerda blickte in diese Augen, die sie aus nächster Nähe mitfühlend ansahen, und spürte, wie eine tiefe Dankbarkeit in ihr aufkam und immer stärker wurde, wie der Wind vor einem Schneesturm, und brach in Tränen aus. Erst als sie schon im Bett lag, konnte sie sich beruhigen, und der Schlaf, den sie gewaltsam verdrängt hatte, packte sie jäh und überwältigte sie.
Seit ihm von einer russischen Granate das Bein zerfetzt worden war, hatte Silvius Magnago keine Nacht mehr gut geschlafen. Der Phantomschmerz, der einem vorgaukelt, das fehlende Körperteil sei noch da, war seit zwanzig Jahren sein dauernder Begleiter. Nur diesem unsichtbaren Gefährten konnte er alle Facetten seines Wesens offenbaren, seine Kraft, seine Wut, seine Zä higkeit und seine Verzweiflung, seinen Groll gegenüber den Gesunden, die nicht wussten, was ein Leben mit dem ständigen Schmerz im Fleisch bedeutete, aber auch seine Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seit Magnago aber diese Fetzen von rauem, im Bozener Gefängnis entwendeten Toilettenpapier zugespielt worden waren, kamen ihm die Schmerzen im Bein geradezu harmlos vor, verglichen mit dem, was ihn jetzt so quälte: das Wissen, nichts getan zu haben für diese Leute, die in ihm ihre letzte Hoffnung gesehen hatten.
Die Kleider, die man den Ehefrauen der Tatverdächtigen der »Feuernacht« einige Zeit nach deren Festnahme ausgehändigt hatte, waren voller Blut, Erbrochenem und Exkrementen gewesen. Die »Bumser« vom Befreiungsausschuss Südtirol waren im Grunde einfache Leute. Trotz allem hatten sie darauf vertraut, dass man ihnen schon helfen würde, wenn man erst in der Welt draußen von der unmenschlichen Behandlung erführe, die sie im Bozener Gefängnis erdulden mussten. Und so hatten sie nichts unversucht gelassen, um Berichte über die Folterungen, denen sie unterzogen wurden, aus der Haft zu schmuggeln. Einige Zettel wurden abgefangen und ihre Absender bestraft, doch andere schafften es, die Zensur zu überwinden. Der Adressat ihres
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