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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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der endlosen Weite die Berge hinauf- und hinunterkurvten, rätselten wir, wie der hierhergekommen sein mochte. Wer – und aus welchem Grund – mochte in diesem strengen Dezember, der den Fluss in unserem Städtchen schon hatte einfrieren lassen, den Trieb verspürt haben, sich wie eine Zwiebel zu entblättern, sich all der Schichten einer komplizierten Skiausrüstung zu entledigen, um schließlich auch den Büstenhalter abzustreifen? Und das auch noch auf dieser besonders steilen schwarzen Piste, auf der die Cracks Spezialslalom trainieren?
    Die ganze Nacht unterhielten wir uns darüber, ohne eine Erklärung zu finden.
    Als ich Carlo kennenlernte, nahm ich mir zum ersten Mal in meinem Leben vor, treu zu sein. Carlo sollte davon natürlich nichts erfahren, aber ich empfand das als Erleichterung und emp finde es auch heute noch so, elf Jahre später. Für mich war das wirklich schon ein Fortschritt.
    Jetzt sind wir zwischen Bologna und Florenz. Die Dunkelheit draußen hat nichts mehr von der befreienden Weite des Nachthimmels, sondern ist schwarz, beklemmend und laut: Wir durchfahren die Tunnel des Apennins, wir tauchen ein und wieder auf so wie ich in meine Gedanken.
    Was hätte Vito zu meinem Verhalten gesagt? Wäre er da gewesen, hätte er gesagt …
    Aber das war er nicht.
    Ob er manchmal an mich denken musste? An meine Mutter mit Sicherheit. Aber warum hat er nicht sie angerufen, sondern mich? Und jetzt bin ich es, die zu ihm eilt.
    Carlo weiß nichts von Vito. Ich habe ihm nie von ihm erzählt.
    Mir dessen bewusst zu werden funktioniert wie die Dämme, die Ulli und ich als Kinder gebaut haben. Es stoppt den Fluss meiner Gedanken, ähnlich wie wir, wenn auch nur kurz, damals den Lauf des Baches anhielten.
    Spritzend und krachend, fast wie Trommelschläge, ließen wir die schwersten Steine, die wir finden konnten, ins Wasser plumpsen: blutwurstfarbenen Porphyr, graugrünen Granit, lachsfarben gestreiften, hellen Dolomit, wie Katzenaugen funkelnden Schiefer. Irgendwann schmerzten uns die Arme von der Anstrengung, und unsere stundenlang im Wasser aufgeweichten Hände, runzelig und weiß, sahen wie blinde Kreaturen der Unterwelt aus. Hatten wir es dann geschafft, den Bach zu stauen, nahm das Was ser seltsame Wege, grub Furchen in die smaragdgrünen Moospolster am Ufer, bildete unvermutet kleine Sumpflöcher im Gras, begann in Wirbeln zu rotieren durch den plötzlichen Widerstand von Felsblöcken, die wir bis zu diesem Moment gar nicht als Teil des Bachbetts, sondern des Unterholzes angesehen hatten. Es blieb aber unerheblich, wie hoch die Steinbarriere war, die wir dem Wasser entgegensetzten, und mit welchen Mengen aus Schlamm und Rinde wir alle Lücken verstopften: Zum Schluss fand das Wasser immer wieder in sein altes Bett zurück.
    Ich habe Carlo nie von Vito erzählt.
    Dieses Nie wirkt wie eine in den Fluss meiner Gedanken gestürzte Felswand. Einen Moment lang kommen sie zum Stillstand, und wenn sie dann wieder zu strömen beginnen, haben sie ihr Wesen verändert, bewegen sich nun irgendwo zwischen Träumen und Wachen, sind etwas anderes geworden, wie das verborgene Wasser eines Sumpfes etwas anderes ist als das rasch dahinziehende, munter sprudelnde eine Wildbachs.
    In diesem halb bewussten Traum sehe ich mich als Kind wieder. Ich bin dabei einzuschlafen, in dem möblierten Zimmer, wo ich damals mit meiner Mutter außerhalb der Saison wohnte. Ein Eurostar hält neben dem Bett, das wir uns teilen. Einige Passagiere betrachten mich durchs Zugfenster mit dem Blick von Menschen, die schon sehr lange auf das vorbeiziehende Panorama geschaut haben: ein sachlicher Blick, aber doch nicht unbeeindruckt von den Landschaften, die ihnen seit Stunden entfliehen. Andere lesen Zeitung und heben nicht einmal den Blick. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass es alles Männer sind und ihr Blick auf meine Mutter Gerda als junge Frau gerichtet ist. Sie liegt neben mir auf der Seite, einen Ellbogen auf die Matratze gestützt, den Kopf in einer Handfläche, während ein Busen voll und schwer aus dem Unterkleid hervorquillt. Sie ist wunderschön, so schön, wie ich es niemals sein werde. Ein Pfiff ertönt, und der Schnellzug setzt sich in Bewegung, durchquert unser Zimmer, als ob es ein Bahnhof wäre. Ein Mann beugt sich am Fenster vor, um unser Bett so lange wie möglich im Auge zu behalten. Meine Mutter legt einen Finger an die Lippen und mur melt sanft, an den Zug gewandt:
    »Pst, Eva schläft …«
    »Nein, nein«, mischt

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