Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
Vom Netzwerk:
präparierte mit der Schneeraupe Marlene, die er bequemer und persönlicher eingerichtet hatte als ein Brummifahrer seinen Laster: mit den schwarz-weiß gestreiften Sitzbezügen, der Stereoanlage, die im Rhythmus von Queen- oder Clash-Songs mit Dutzenden von Leuchtdioden blinkte – eine technische Neuheit damals in den achtziger Jahren –, und der voll aufgedrehten Heizung, sodass man auch im T-Shirt nicht fror. Draußen der flackernde Winterhimmel und der stürmische Wind, wie er auf zweitausend Metern normal ist. Und wir fuhren die Pisten rauf und runter, um den Schnee zu einer perfekten weißen Samtfläche zu glätten für die Skifahrer, die die »Fabrik« am nächsten Morgen auswerfen würde.
    Es war eine solche Nacht, als Ulli mir sagte, dass es ihm keine Angst mehr mache, schwul zu sein. Genau dieses Wort benutzte er: schwul. Nicht »gay« oder »homosexuell«, sondern jenen Ausdruck, mit dem die Alten am Stammtisch im Wirtshaus ihre Vorurteile bekräftigten, jene Bezeichnung, die Ulli hinter seinem Rücken die Klassenkameraden flüstern hörte, die Nachbarskinder, den jüngeren Bruder Sigi, alle, seit er so mit elf keine Lust mehr auf Fußball oder Eishockey hatte, sondern sich lieber mit mir, einem Mädchen, herumtrieb.
    Im Jahr zuvor war Ulli in London gewesen, wo seine Homosexualität nichts Besonderes war. Dort behandelte man ihn, als sei seine Veranlagung etwas Alltägliches. Und das hatte ihm gefallen.
    Und es war ebenfalls in solch einer Nacht, als ich ihm von meiner Blitzheirat erzählte, in Reno geschlossen und kurze Zeit später auch dort wieder aufgehoben, mit Lesley – oder Wesley. Jedenfalls tat ich so, als könne ich mich schon gar nicht mehr genau daran erinnern, wie er hieß, diese Art Ehemann für zwei Wochen. Natürlich fiel Ulli nicht darauf herein und lachte nur. Irgendwann aber sah er mich dann stumm mit jener sanften Traurigkeit an, die er so häufig zeigte, und meinte:
    »Was wohl Vito dazu sagen würde?«
    Ich zog laut die Nase hoch. Da war er wieder, dieser Gleichklang zwischen Ulli und mir, der mich jedes Mal aufs Neue überraschte: Auch ich musste im gleichen Moment an Vito denken. Dabei hatten wir ihn seit Jahren schon nicht mehr erwähnt, weder Ulli noch ich. Und meine Mutter schon gar nicht. Was hätte er gesagt zu mir und meiner Blitzheirat, dieser pflichtbewusste Carabiniere aus Süditalien? Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte.
    Um zu verhindern, dass die Schneeraupe am Steilhang kippte und abstürzte, war Marlenes Schnauze über ein Drahtseil mit einer Winde an der Bergstation verbunden. Im Scheinwerferlicht funkelte es wie eine Perlenkette. Stumm beobachtete ich, wie es sich spannte.
    Dann begann ich Ulli zu erzählen, dass ich seinen Bruder Sigi im Sommer an einem Weinausschank beim Altstadtfest getroffen hatte. Zusammen mit einer Bier- und Currywurstfahne hatte sein Mund folgenden Satz von sich gegeben: »Sollte ich eines Tages in der Zeitung lesen, dass dir ein Mann was angetan hat, würde mir das leidtun. Aber überraschen würde es mich nicht.«
    Den Blick starr auf den Lichtkegel der Scheinwerfer vor uns im Schnee gerichtet, manövrierte Ulli weiter schweigend seine Marlene. Von brutalen, obszönen Sprüchen des betrunkenen Sigi konnte er ein Lied singen. Oft schon hatten wir zusammen überlegt, wann genau und wodurch dieser kleine Bruder mit den enzianfarbenen Augen, dem er jahrelang die Schuhe zugebun den hatte, nun ja … so geworden war. Dann drehte sich Ulli plötz lich zu mir um, mit weit aufgerissenen Augen, die im matten Licht in der Kabine vor Empörung funkelten.
    »Der will dich vögeln. Auch Sigi will dich vögeln!«
    »Na wenn schon, überrascht dich das?«
    »Ich will dich nicht vögeln.«
    »Das zählt nicht, du bist ja schwul.«
    Ulli brachte die Schneeraupe zum Stehen, sprang hinaus und schlug die Tür zu. Ich fürchtete, ihn gekränkt zu haben, obwohl er das Wort schwul vorher selbst benutzt hatte. Aber nein. Er bückte sich, um etwas aufzuheben, was er im Schnee entdeckt hatte. Angestrahlt wie ein Rockstar auf der grandiosen Bühne der ihn umgebenden Bergwelt, hob Ulli den Arm, um mir zu zeigen, was er gefunden hatte: dem Anschein nach ein bizarres zweiköpfiges Tier ohne Rumpf, dafür aber mit einem langen, fadenförmigen Schwanz. Erst als er wieder einstieg und mit ihm ein Schwall eiskalter Nachtluft ins Führerhaus wehte, erkannte ich, was es war: ein spitzenbesetzter BH.
    Während wir in unserem beheizten Mikrokosmos in

Weitere Kostenlose Bücher