Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Hilferufs war natürlich er, Silvius Magnago, die einflussreichste politische Stimme Südtirols.
Es war gegen Ende des Jahres 1961, als Magnago diese traurigen Klopapierzettel erhielt. Und er, der sich mit körperlichen Schmerzen sehr gut auskannte, hatte das alles gespürt, als widerführe es ihm selbst: die Krämpfe in den über Stunden hochgebundenen Armen, das Reißen des von Fausthieben traktierten Gewebes, das unheimliche Krachen von Knochen, die unter Schlägen barsten, der Brechreiz und das fassungslose Entsetzen derer, die gezwungen wurden, ihre eigenen Exkremente zu schlucken, die platzende Lunge, wenn der Kopf unter Wasser gehalten wurde, das Wahnsinnigwerden durch Schlafentzug.
Er hatte kaum geatmet, während er die Mitteilungen las, hatte geweint, in der Stille seines mit hellem Holz vertäfelten Arbeitszimmers, das auf die Prachtstraße Bozens hinausging. Dabei hatte er wieder die Geschehnisse vor Augen gehabt, denen er im Krieg als junger Gebirgsjägerleutnant beiwohnen musste, jene Bilder, die er so gern vergessen hätte. Er hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet, auf den Gewürzstrauch, den er so mochte. Jetzt war er kahl, die gelben Blüten, die mit ihrem Vanilleduft den Frühling ankündigten, waren noch nicht gesprossen. Noch nicht einmal sie spendeten ihm also Trost.
Die Südtiroler Volkspartei, der er vorstand, konnte es sich nicht leisten, auch nur entfernt mit den »Bumsern« in Zusammenhang gebracht zu werden. Zu steinig war der Weg zu einer echten Autonomie Südtirols. Man musste alles einkalkulieren, die endlosen Zeitspannen politischer Prozesse, all die Beratungen und Konferenzen, das Wechselbad der Versprechungen und Drohungen vonseiten eines Staates, der zu lange geglaubt hatte, das Problem aus der Welt zu schaffen, indem er es einfach negierte. Erst jetzt, da diese Provinz zu einem Pulverfass geworden war, sann die italienische Regierung über mögliche Lösungen nach.
Magnago hatte damit begonnen, ein feines, hochempfindliches Netz aus Kompromissen und Verhandlungslösungen zu knüpfen, um jene Autonomie (Los von Trient) zu erreichen, die allein einen Ausweg aus der Sackgasse wies und das schlimmste Szenario verhindern konnte: einen Bürgerkrieg der beiden Volksgruppen. Dabei wusste er sehr genau, dass sein ausgeprägter Südtiroler Akzent, mit dem er sein ansonsten tadelloses Italienisch sprach, seine Gesprächspartner in Rom von vornherein zu der Überzeugung veranlasste, dass er sie hassen müsse. Er wusste auch, welches Maß an Diplomatie, an Geduld und bewusstem Überhören so mancher Bemerkung notwendig war, um auch nur den eigenen Ausgangspunkt für Verhandlungen deutlich zu machen: Die Südtiroler hassten die Italiener nicht, was sie hassten, war die Kolonisierung, die sie durch den italienischen Staat erlitten hatten. Somit war klar, dass sie sich keinesfalls auf das Risiko einlassen durften, mit jenen Leuten verwechselt zu werden, die, um ihr Anliegen durchzusetzen, auf Sprengstoff zurückgegriffen hatten, auch wenn damit nur Symbole des Staates getroffen werden sollten.
Doch es gab einen weiteren Grund für seine Bestürzung angesichts dieser Zettel, die buchstäblich mit dem Blut gefolterter Männer geschrieben worden waren, und der hatte nichts mit politischen Zwängen zu tun. Während seines Studiums an der Universität Bologna, wo er auch sein Juraexamen ablegte, war Magnago zu der Überzeugung gelangt, dass der Dialog, die Suche nach Kompromissen, die harte, aber aufrichtige Diskussion selbst sehr weit auseinanderliegender Positionen, jeglicher Form von Gewalt vorzuziehen sei. Wer auf Argumente verzichtete und sich auf zerstörerische Aktionen gegen Sachen oder Menschen ein ließ, so seine Überzeugung, setzt sich ins Unrecht, egal, wie gerecht sein Anliegen auch sein mochte: Dies war das einzige politische Credo des Silvius Magnago. Von einer der großen Ideologien dieses kriegerischen 20. Jahrhunderts hatte er selbst sich daher nie blenden lassen. Nicht lange vor Beginn des letzten großen Völkerschlachtens war er erwachsen geworden und hatte genau beobachten können, wohin es führte, wenn die Politik der Gewalt den Vortritt ließ: Die ganze Welt hatte in Flammen gestanden. Sein eigener amputierter Leib und die Schmerzen, welche die Wunde ständig ausstrahlte, machten es ihm zur Pflicht, immer und überall für die Unversehrtheit des Menschen einzustehen. Und damit waren nicht nur die Bewohner seines »Heimatlands« gemeint, die ihn beauftragt hatten, sie zu
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