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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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militärischen Staatsstreich gegen die neue Mitte-links-Regierung; zweitens die Einsetzung einer »Regierung der öffentlichen Sicherheit« unter der Führung von Generälen und rechten Parlamentsabgeordneten und drittens die Ermordung des Ministerpräsidenten Aldo Moro.
    Der Piano Solo wurde nie realisiert, aber zumindest das letzte der drei Ziele erreicht, wenn auch erst fünfzehn Jahre später und durch die Hand Dritter. Das neue Spiel der Geheimdienste hatte begonnen. Es war so schmutzig und brutal, wie man es noch nie erlebt hatte. Und Italien standen blutige Jahre bevor.
    Am 9. Dezember 1963, vier Tage nach der Vereidigung der Regierung Moro, begann im Mailänder Justizpalast der größte po litische Prozess seit Ende des Krieges, der Prozess gegen die Attentäter der »Feuernacht«. Angeklagt waren einundneunzig Personen, dreiundzwanzig wurden noch mit Haftbefehl gesucht.
    Bis zu diesem Zeitpunkt wussten die meisten Italiener nichts von Südtirol. Kaum jemand war sich darüber im Klaren, dass es dort oben ganz im Norden eine entlegene Ecke gab, wo die Leute Deutsch sprachen. Erst jetzt, durch den Pressewirbel um den Mailänder Prozess, begann man etwas von der Existenz und dem Charakter dieser Grenzprovinz zu begreifen.
    An einem kalten Januarmorgen, ungefähr einen Monat nach Prozessbeginn, eröffnete das Schwurgericht seine Sitzung vor ei nem Publikum, das an diesem Tag sehr viel bunter als gewöhnlich aussah. In den Bankreihen hinter den nächsten Angehörigen der Angeklagten saßen Dutzende Männer in Lederhosen, mit roten Westen, Lodenjacken und Filzhüten mit Federschmuck auf dem Kopf: die Tiroler Schützen.
    Unter ihnen war auch Peter Huber mit fast all seinen Schützenbrüdern, die Jäger waren wie er, sowie die Ehefrauen der Angeklagten, die regelmäßig die Kosten und Mühen der langen Anfahrt im sogenannten »Tränenbus « auf sich nahmen. Auch die Schützen hatten einen Bus gemietet, um in großer Zahl am Mailänder Prozess teilzunehmen. Doch sie konnten nur wenigen Sitzungen beiwohnen, vielleicht zwei oder drei, denn sie alle hatten Familien und ihre Arbeit, die zu Hause auf sie warteten. Aber es war ihnen wichtig, den »Helden des BAS« jene Unterstützung zu zeigen, die Silvius Magnago ihnen verweigert hatte.
    Die Attentäter der Feuernacht selbst enttäuschten weiterhin die Erwartungen all jener, die in ihnen außerordentliche Figuren, seien es Helden oder Mörder, sehen wollten. Sepp Kerschbaumer, der Kopf der Grup pe und Inhaber eines kleinen Geschäfts in Frangart vor den Toren Bozens, war von der Folter gezeichnet. Er war ein schmächtiger Mann mit einem eingefallenen Gesicht, einem ungewöhnlichen Haarschnitt nach der Mode der zwanziger Jahre und dem melancholischen Blick eines Menschen, der sich in der Welt der Ideale heimischer fühlt als in der Geschäftswelt, in der er jedoch sein tägliches Brot zu verdienen gezwungen ist: So war es auch eher seine Frau, die ihn dazu drängte, armen Schuldnern nachzulaufen, denen er selbst, der mehrmals täglich das Vaterunser betete, die Schulden ohne Weiteres erlassen hätte. Sein mit Intelligenz gepaarter idealistischer Eifer und die innere Überzeugung, mit der er die mehr menschlichen als politisch-historischen Gründe erläuterte, die zu den Aktionen des BAS geführt hatten, nötigten den Mailänder Richtern ehrlichen Respekt ab. Was Kerschbaumer schilderte, war für jedermann zu verstehen. Er erzählte, wie demütigend es sei, wenn man auf einer Behörde nicht verstanden werde und kein Formular ausfüllen könne, weil man die Amtssprache nicht beherrsche; er berichtete von Ärzten in Krankenhäusern, die von ihren deutschsprachigen Patienten verlangten, dass sie sich, egal wie krank oder schwer verletzt sie waren, auf Italienisch ausdrückten; er legte dar, wie schwierig es für Südtiroler sei, außerhalb ihres Hofes Arbeit zu finden. Die italienischen Besucher hörten Kerschbaumer gebannt und voller Verständnis zu.
    Um die Benachteiligungen zu belegen, denen die Südtiroler ausgesetzt waren, berichtete einer der Angeklagten in einer anderen Sitzung: »Seit mehr als sechs Jahren wartet meine Schwiegermutter auf ihre Rente.«
    Es gab Gelächter im Saal, beifälliges Gemurmel und Rufe aus dem Publikum, die von unverkennbarer Sympathie getragen waren:
    »Meine Mutter auch.«
    »Und mich lassen sie auch mit der Rente hängen.«
    Es dauerte eine Weile, bis die Ruhe im Saal wiederhergestellt war.
    Durch die Sitzungen im Mailänder Gericht lernten

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