Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Zeit, da sie vor Müdigkeit im Stehen einschlief, vorbei. Ihre vollen Lippen öffneten sich, und dahinter blitzten ihre weißen Zähne auf. Es war dieses Lachen, das den Männern, die sie umgaben, den Köchen und Kellnern oder dem Küchenjungen Elmar, durch und durch ging. Und Herr Neumann musste sich sogar, wenn Gerda lachte, mit der Schürze die Stirn abtupfen, um sein Gesicht zu verbergen.
Gerda hatte sich verändert: Jetzt bemerkte sie die Blicke der Männer. Und sie tat nicht so, als missfielen sie ihr.
Bald war die Obstkiste für Eva zu klein. Elmar half Gerda, eine Art Laufstall zu bauen, indem er verschiedene Kisten zusammennagelte. Den stellten sie unter den Arbeitstisch für die Süßspeisen, gut geschützt vor heißen Fettspritzern und außer Reichweite von Spülmitteln oder Fleischmessern. Manchmal rieselte ihr Mehl oder Zucker auf den Kopf, und alle lachten über das süße Baby mit dem Greisenhaar. Ja, die Letze , die Kleine, war ein braves Schneckile , die alles daransetzte, niemanden zu stören. Sie saß in ihrem Ställchen und schaute sich zaghaft um, als frage sie in die Runde: Ich bin doch nicht im Weg, oder? Nein, das war sie nicht, und niemand versagte ihr das Lächeln, aber es war auch klar, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit dortbleiben konnte.
»Was machst du denn, wenn sie zu laufen anfängt?«, fragte Nina eines Abends Gerda in dem Schlafsaal unter dem Dach.
Nach einem Tag in ihrem Stall unter der Süßspeisentheke robbte Eva jetzt, den von Windeln geblähten Popo wie eine Fahne in die Höhe gereckt, sich mit Armen und Beinen abstoßend durch das Zimmer. Irgendwann hatte sie eines der Betten vor der hinteren Wand erreicht. Mit den Händchen klammerte sie sich am Gitter des Kopfendes fest und versuchte, sich aufzurichten und hinzustellen. Als sie es geschafft hatte, ließ sie ein triumphierendes Glucksen vernehmen, während sie den Blick ihrer Mutter suchte, um mit ihr diesen Sieg zu teilen. Sie fand ihn nicht: Gerda hatte den Kopf sinken lassen und starrte zu Boden. Auf Ninas Frage wusste sie keine Antwort.
Alle fürchteten den Tag, da man Eva aus der Küche vertreiben würde, aber niemand wunderte sich, als es dann geschah. Köche, Küchenjungen und Hilfsköche saßen in dem düsteren Raum neben der Speisekammer beim Mittagessen zusammen, das Herr Neumann wie gewohnt für sie zubereitet hatte, während Gerda in der Küche geblieben war, um Eva ein Fläschchen aufzuwärmen. Als sie zur Theke mit den Süßspeisen trat, sah sie, dass ein Brett des Laufstalls sich verschoben hatte. Und Eva war nicht mehr da. Aufgeschreckt begann Gerda, mit dem warmen Fläschchen in der Hand, suchend in der Küche auf und ab zu laufen. Auf der Fleischtheke lagen direkt an der Kante schwere, scharfe Messer, die bloß darauf warteten, wie ein Henkersbeil herunterzufallen. Der Backofen war eingeschaltet, und seine Griffe glühten genau auf der Höhe von Kleinkinderhänden. Und in dem Eimer mit Schmutzwasser neben der Spüle hätte auch ein größeres Kind als Eva ertrinken können. Gerda fand ihre Tochter weder zerteilt noch verbrannt oder ertrunken, doch jedes Mal machte die erste Erleichterung schnell wieder Panik Platz: Ihre Tochter war fort. Sie rannte aus der Küche.
In den mehr als zwei Jahren, die sie bereits in dem Hotel arbeitete, war Gerda nur ein einziges Mal durch die Schwingtür gegangen, die zwischen dem Reich von Herrn Neumann und dem Speisesaal lag. Am Morgen ihres ersten Arbeitstages hatte Frau Mayer ihr, bevor die Gäste zum Frühstück herunterkamen, den Saal gezeigt, die Bogenfenster mit dem Panoramablick auf die Berge, die Tische mit den Blumenarrangements auf den weißen Leinentüchern, die Kronleuchter aus Muranoglas, und ihr dann klar und deutlich gesagt: In diesem Raum habe sie nichts verloren.
Jetzt blieb Gerda auf der Schwelle stehen. Die ersten Gäste nahmen gerade ihre Plätze ein, Paare, Männer ohne Begleitung, ältere Leute. Sachlich galant rückten die Herren den Damen den Stuhl zurecht, die sich niederließen und gnädig den Ausblick genossen, als handele es sich um ihr Eigentum. Der Kontrast zwischen diesen unbeschwerten Gesten und der Angst, die ihr selbst die Brust einschnürte, war so groß, dass Gerda wie betäubt dastand. Nein, von diesen Leuten suchte niemand eine Tochter, deren Vater nichts mit ihr zu tun haben wollte und die nun zu groß geworden war, um stundenlang in einem Ställchen aus Obstkisten auszuharren, sodass sie nicht mehr wusste, wohin mit ihr. Aber
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