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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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spüren als zuvor.
    Gerda schlug die Richtung zum Ursulinenkloster ein. Vor dem Tor neben der Freitreppe angekommen, zog sie an dem Draht, der an einer Glocke befestigt war. Kurz darauf erschien eine klein gewachsene alte Nonne. Ohne lange Fragen zu stellen, ließ sie Gerda herein. Wenn in der Dämmerung ein Mädchen ohne Begleitung nur mit einem Säugling auf dem Arm vor der Tür stand, erübrigten sich alle Erklärungen.
    Die Nonnen versorgten sie mit einer Tasse Fleischbrühe und machten ihr dann ein Angebot: Sie würden das Kind bei sich aufnehmen, es erziehen und in ihrer Schule unterrichten und später einen Beruf lernen lassen. Sie selbst dürfe ihre Tochter besuchen und auch mal mitnehmen und mit ihr spazieren gehen. Gerda schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt: Als ihre Tochter zur Welt kam, habe sie Eva nicht zur Adoption freigegeben, und das werde sie auch jetzt nicht tun. Außerhalb der Saison arbeite sie ja nicht, da würde sie sich ein möbliertes Zimmer nehmen, denn diese zwei Monate im Jahr könne, ja wolle sie Eva bei sich haben. Das sei unmöglich, entgegneten ihr die Nonnen. Entweder bleibe das Kind ganz bei ihnen oder überhaupt nicht. Eine andere Lösung gebe es nicht.
    Übernachten durfte sie auf einer Pritsche in einem Raum hinter der Küche. Dort lag sie nun, den Blick starr zu der hohen, unverputzten Decke gerichtet. Keine vierundzwanzig Stunden hatte sie mehr, dann musste sie wieder im Hotel sein, und zwar ohne Eva, sonst würde sie ihre Arbeit verlieren. Doch bald wurde die Müdigkeit stärker als ihre Sorgen: Sie kauerte sich auf der Seite zusammen, barg Eva in der Vertiefung zwischen Brust und Armbeuge, verhakte ihre Füße, indem sie den rechten großen Zeh zwischen den linken großen Zeh und den daneben steckte, und schlief ein.
    Vor Tagesanbruch schon verließ Gerda das Kloster. Sanft schaukelte das Köpfchen der noch schlummernden Eva in ihren Armen.
    Noch im Morgenmantel, den kleinen Sigi im Arm, öffnete Leni die Tür. Ulli stand neben ihr, eine Hand aufs Bein der Mutter gelegt, als wolle er dafür sorgen, dass zumindest dieser Elternteil nicht spurlos verschwinden würde, wie er es von dem Vater gewohnt war. Aus braunen Augen mit endlos langen Wimpern schaute er zu Eva auf und betrachtete sie – aufmerksam, aber nicht abweisend.
    Gerda tat Leni leid, weil man sie aus dem Haus gejagt hatte, dessen bedrückender Atmosphäre sie allerdings selbst entflohen war. Und so bezweifelte sie, dass es für die Schwägerin besser wäre, wieder bei diesem Vater mit dem verschlossenen Herzen zu leben. Sie selbst war tief verunsichert und enttäuscht. Seit drei Monaten schon hatte sie ihren Mann nicht mehr gesehen und wusste nicht, wo er war und was er trieb. Zwar erzählte man sich seltsame, erschreckende Dinge über ihn, aber sie glaubte nicht daran, denn sie wusste ja: Die Leute übertrieben immer. Der Vorsitzende von Peters Schützenkompanie war bei ihr gewesen und hatte ihr klarzumachen versucht, dass Opfer für die »Heimat«, so hart sie auch sein mochten, immer ihren Preis wert seien. Leni gefiel nicht, was er ihr da erzählte, wusste aber nicht, was sie erwidern sollte. Bis vor einiger Zeit hatte Peter ihr immer noch, wenn er verschwand, etwas Geld dagelassen. Jetzt nicht mehr.
    Einige Monate zuvor hatte ein großes englisches Unternehmen am Rande des Städtchens eine Fabrik für Maschinenbauteile eröffnet, die größte ausländische Industrieanlage, die man je in Südtirol gesehen hatte. Fast fünfhundert Arbeitskräfte wurden gebraucht, eine immense Zahl, gemessen an der Einwohnerzahl des Ortes. Und da es in der Kleinstadt nur wenige Italiener gab, die darüber hinaus größtenteils Beamte waren, würden nun endlich auch die alteingesessenen Südtiroler Arbeit bekommen. Leni teilte die Begeisterung, die das ganze Tal erfasst hatte. Die schlechten Zeiten für ihre Familie würden ein Ende haben, denn jetzt bot sich Peter die Möglichkeit, das zu tun, was er immer wollte: in einer Fabrik arbeiten. Doch als sie ihm den Zettel mit der Firmenanschrift und den Bewerbungsfristen zeigte, warf ihr Mann noch nicht einmal einen Blick darauf. Es war dieser Tag gewesen, an dem er wieder loszog. Und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
    Jetzt sei sie, erzählte sie Gerda, mit ihren beiden Söhnen wieder ganz von ihren Eltern abhängig, als wäre sie gar keine verheiratete Frau, sondern nur eine ledige Mutter.
    Sie brach ab und warf Gerda einen verlegenen

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