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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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links und rechts zwei weitere Kinder, ein vielleicht dreijähriges Mädchen und ein kaum älterer Junge mit einem Lausbubengesicht. Konzentriert, ohne dem Treiben um sie herum Beachtung zu schenken, starren sie auf einen der Flachbildschirme, auf denen in einem fort Werbespots laufen. Sie scheinen entspannt zu sein und sich so wohlzufühlen wie irgendeine beliebige Familie, die zu Hause im Wohnzimmer auf der Couch zusammensitzt und fernsieht. Als ich die Rolltreppe hinauf zu den Gleisen nehme, verschwinden sie langsam aus meinem Blickfeld.

1964
    Die Lage war etwa so:
    Der Heuboden eines alten Hofes zu Ende des Sommers. Die Ernte war gut, es hat weder zu viel noch zu wenig geregnet, das Heu lagert trocken auf dem Zwischenboden. Die Klappe, durch die es der Bauer dann im Laufe des Winters hinunter in den Stall und dann weiter in die Futtertröge befördern wird, ist aus altem Holz; auch der Fußboden, die Wände und Balken, die das Dach tragen, und die Schindeln darauf sind aus Tannenholz und schon sehr alt. Auf dem Boden steht eine brennende Kerze, die zischt, raucht, ihren Docht verzehrt. Der Wind pfeift durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern und lässt das Flämmchen aufflackern, dann ein heftigerer Windstoß, und die Kerze kippt ins Stroh.
    In jenem Sommer 1964 waren sie wirklich alle nach Südtirol ge kommen, um in die Glut zu blasen und das Feuer zu entfachen.
    Begonnen hatte es mit einigen polizeilich gesuchten Mitgliedern des BAS, die sich von der Gruppe abspalteten, weil ihnen das Vorgehen der »Bumser« zu harmlos schien. Anschläge gegen Hochspannungsmasten brächten nichts, erklärten sie. Um die »Heimat Südtirol « zu befreien, seien bewaffnete Guerillaaktionen notwendig. Und wenn dabei Blut fließen sollte, müsse man das eben hinnehmen.
    Nach und nach waren sie alle aufgetaucht: die österreichischen Neonazis; die sich intellektuell gebenden Mitglieder der NPD, der Wiedergeburt von Hitlers NSDAP, ein Sammelbecken unbelehrbarer Anhänger eines »Deutschland über alles«; die italienischen Neofaschisten. Die rechtsradikalen Burschenschaf ten österreichischer Universitäten, der KGB, der von der sowjetischen Botschaft in Wien aus Kontakt zu den radikalsten Ter roristen aufgenommen hatte; die Agenten italienischer und amerikanischer, österreichischer und deutscher Geheimdienste. Ja, selbst die Belgier waren vertreten, was man andererseits auch wieder verstehen konnte, denn jedweden flämischen Agent Provocateur mit einem Minimum an Berufsethos musste es reizen, im turbulenten Südtirol der sechziger Jahre, das damals viel bessere Karrierechancen als das heimische Flandern bot, den Dienst aufzunehmen. Schließlich war dann auch noch General De Lorenzo mit seinen Männern auf der Bildfläche erschienen. De Lorenzo war der Oberkommandierende der Carabinieri, früher Chef des italienischen Geheimdienstes SIFAR sowie der Verbindungsmann der CIA beim Aufbau der paramilitärischen Geheimorganisation Gladio .
    So tummelten sich wirklich alle im schönen Südtirol, dem Land der nach frisch gemähtem Heu duftenden Wiesen, der rosaroten Felszinnen, der vom Rhododendron entflammten Steinmauern, der weiß glitzernden Gletscher oben an der Grenze und der Seilbahnen voller nach sportlicher Betätigung dürstender Skifahrer. Ja, sie waren wirklich alle gekommen, um hier die Generalprobe für ein Stück aufzuführen, das damals noch gar keinen Namen hatte, später aber, als handele es sich um ein harmloses Gesellschaftsspiel, »Strategie der Spannung« genannt wurde. Die Mitspieler: offen gewaltbereite Extremisten, V-Männer mit der Aufgabe, die Spannungen zu verschärfen, und ein Staatsapparat, der unbesonnener und härter noch als unter Mussolini reagierte.
    Alles war bereit, ein Funken würde reichen, um das Feuer zu entfachen.
    Von alldem hatte Peter keine oder nur eine sehr vage Ahnung. Dabei hatte auch er an subversiven Treffen in Almhütten gleich jenseits der Grenze teilgenommen und Leute kennengelernt, die so ganz anders als die zu Hause waren. Studenten mit dicken Hornbrillen zum Beispiel, die mit Wiener Akzent Verse aus den Räubern deklamierten, als habe Schiller sie eigens für sie verfasst, und pathetisch die kalte Luft der Alpennächte tief in sich einsogen, felsenfest davon überzeugt, einen historischen Augenblick zu erleben. Da war ein junger Assistent von der Innsbrucker Universität, ein Mann mit wulstigen Lippen und fleischigen Fingern, redegewandt trotz der vom Übergewicht rührenden

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