Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
christdemokratische Bürgermeister im Florenz der fünfziger Jahre? Doch der ameisengesichtige Priester achtet niemanden von ihnen, von uns, geringer als solch eine große Persönlichkeit, und indem er zunächst wieder die Augen halb schließt, um seinen Respekt zu bekunden, erzählt er uns dann, die Hände mit den feingliedrigen Fingern auf Schulterhöhe erhoben und fächerartig geöffnet, von einer Sitzung im Florentiner Rathaus, dem Palazzo della Signoria, viele Jahrzehnte zuvor:
»Während eines hitzigen Wortgefechts zwischen Kommunisten und Christdemokraten, bei dem schließlich beide Seiten schreiend und brüllend auf ihn losgingen, schloss La Pira die Augen und verharrte lange, lange in Schweigen, wodurch er auch alle anderen zur Ruhe zwang … Und sie schwiegen und warteten, was er sagen würde.«
Der Priester hält inne und blickt seine Zuhörer aufmerksam an. Es ist totenstill. Pflegerinnen, Verkäufer schwarz kopierter DVDs, Obdachlose, die sich seit Wochen nicht mehr gewaschen haben, alle brennen darauf zu erfahren: Wie war das damals im Kalten Krieg der fünfziger Jahre, in den Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Stalinisten, mit diesem Bürgermeister einer Stadt, die viele von ihnen niemals betreten werden, was hat er denn nun gesagt, dieser berühmte Bürgermeister? Der Priester verlagert sein Gewicht von einem aufs andere Bein (quiek) und erzählt mit gesenkter Stimme im Präsens weiter.
»La Pira sitzt da und schweigt mit geschlossenen Augen. Und ohne sie zu öffnen, sagt er: ›Wie unbedeutend ist das doch alles, gemessen an dem Wunder, dass Christus auferstanden ist.‹«
Der ameisengesichtige Priester hebt den Blick seiner hinter den Brillengläsern riesengroßen Augen, betrachtet uns und wiederholt es noch einmal, verkündet es uns mit einem Lächeln voller Freude:
»Ja! Christus ist wirklich auferstanden!«
Und einen Moment lang empfinde ich, zu meiner großen Ver blüffung, selbst diese große Freude.
Nach der Wandlung, beim Vaterunser, blicke ich mich um. Alle haben mit versunkener Miene die Handflächen zusammengelegt. Und ich merke, wie auch ich, nach wer weiß wie vielen Jahren, dieses Gebet mitspreche, ganz wie ein Kind zu seinem Vater.
»Vater unser im Himmel«, murmele ich auf Deutsch, wie ich es gelernt habe.
»Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich …«
Aus irgendeinem Grund halte ich plötzlich inne und beginne nach einem kurzen Zögern noch einmal von vorn. Nun aber in Vitos Sprache:
»Padre nostro che sei nei cieli,
sia santificato il tuo nome.
Venga il tuo regno,
sia fatta la tua volontà …«
Es ist nicht so, dass ich plötzlich wieder gläubig geworden wäre, einen Glauben wiederentdeckt hätte, der mir nie gefehlt hat, auch nicht durch diesen Priester, der so beseelt und menschlich wirkt. Nein, ich habe nur spontan das Bedürfnis, mich den Leuten um mich herum anzuschließen, hier in dieser hässlichen Kapelle. Denn so wie ich scheinen auch sie mir alle Kinder »von unbekannt« zu sein.
Nach der Messe bleibe ich vor dem Schaukasten draußen bei der Tür stehen. Ausgehängt sind die üblichen Missionsheftchen, Bekanntmachungen religiöser Orden, das Programm einer Pilgerfahrt nach Lourdes, die Anfangszeiten der Messen und Andachten für Ostern und den Ostermontag und ein kariertes, mit Handschrift beschriebenes Blatt, auf dem steht: Am Osterdienstag wird der Kaplan der staatlichen Eisenbahn auf einem Rundgang die Geschäfte im Bahnhof Termini segnen.
Ich versuche es mir vorzustellen, wie der ameisengesichtige Priester mit seinen quietschenden Schuhen die Dessousläden betritt und sich zwischen den nur mit Babydoll und Tanga bekleideten Schaufensterpuppen seinen Weg bahnt. Er wird sich nichts anmerken lassen und ihnen allen mit seinem breiten Lächeln den Segen erteilen, wird mit seinen langen Fingern durchsichtige Push-up-BHs mit Weihwasser besprenkeln und durch seine dicken Brillengläser mit schlichtem Wohlwollen die Verkäuferinnen anschauen, die übertrieben geschminkt mit fromm gesenkten Köpfen hinter der Ladentheke stehen.
Es wird langsam Zeit für meinen Zug. Ich kaufe noch eine Flasche Wasser, ein wenig Obst, aber keine Brötchen. In einem Zug, der eine Strecke von siebenhundert Kilometern vor sich hat, wird es ja wohl einen Bistrowagen geben. Eine vielleicht achtzehnjährige, mit einem bunten Rock bekleidete Roma sitzt in einem der kleinen Kunstledersofas, die überall im Bahnhofsgebäude verteilt sind; im Arm hält sie einen Säugling,
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