Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
oder peruanischen Gesichtszügen, lassen sie gewähren, ermuntern sie nicht, aber jagen sie auch nicht fort: Stumm und geduldig schauen sie ihr zu und warten darauf, dass sie aufhört. Als die Frau mit ihrem Kunststück fertig ist, verabschiedet sie sich und geht davon mit dem zufriedenen Lächeln eines Menschen, der seinen Platz in der Welt gefunden hat. Mutter und Sohn schauen ihr keinen Augenblick nach.
Ich setze mich in eine Bar – Espresso, Hörnchen, ein frisch gepresster Saft – und schlage die Zeitung auf. Jede Seite lese ich, selbst die Lokalseite für Rom mit den entrüsteten Leserbriefen zu den Schlaglöchern in den Straßen, mit einem Artikel über wildes Parken, und sogar den Wohnungsmarkt studiere ich. Dann beschließe ich, mir ein wenig die Beine zu vertreten in jenem großen Einkaufszentrum, zu dem der Bahnhof Termini geworden ist. Ostern zum Trotz sind auch heute viele Läden geöffnet, vor allem die zahlreichen Geschäfte für Damenunterwäsche, in jeder Ecke eins, wie ich feststelle, während ich herumschlendere, aber nur, um mir die Zeit zu vertreiben: Ich bin schließlich auf dem Weg zu dem Mann, dessen Abwesenheit mein Leben und das meiner Mutter geprägt hat, und nicht zum Shoppen. Plötzlich höre ich Gesang.
Im untersten Geschoss des Einkaufszentrums, gegenüber dem x-ten Dessousladen, sehe ich ein Tor, das zu einer Tiefgarage führen könnte. Es steht offen und gibt den Blick frei auf eine zweiflügelige Glastür, die einen schmalen, fensterlosen, nur von Neonlicht erhellten Schlauch abschließt, der tatsächlich an eine Garage erinnert. An der hinteren Wand erkennt man einen Tisch mit einer weißen Tischdecke und einem bronzenen Kreuz darauf. Einige Leute sitzen davor und singen gemeinsam, dirigiert von einem weiß gewandeten Herrn. Es ist weder eine Garage noch ein Lagerraum. Es ist eine Kirche.
Als Kind bin ich gern in die Kirche gegangen.
Gut in Erinnerung habe ich die Christmette in unserer Pfarrkirche. Meine Mutter war nicht dabei: Die Festtage zählten zur Saison. So habe ich Weihnachten immer bei Sepp und Maria verbracht. Sie lehrten mich, dass wir an diesem Tag die Geburt von Jesus feiern. Dieser wunderbare Mensch, der beste, den es je gab auf Welt, so erzählten sie mir, hatte einen fantastischen, fernen Ort verlassen und war zu uns gekommen, um uns zu lehren, dass wir alle gut zueinander sein sollten. Eine Botschaft, die mich überzeugte, nicht zuletzt, weil meine Adoptivgroßeltern sie mir erzählten, die wirklich zu allen gut zu sein schienen.
In der Messe war die ganze unübersehbar große Familie Schwingshackl zugegen: dreizehn Söhne und Töchter, unzählige Schwiegersöhne und -töchter, ein Heer von Enkelkindern und dazu noch ein Anhängsel ohne klare Benennung – ich. Auch die Hubers waren da, die Cousins meiner Mutter. Onkel Wastl, der in der Musikkapelle Klarinette spielte, kam mir in seiner samtenen Weste, die nur an hohen Feiertagen getragen wurde, noch schöner als die trompetenden Engel über der Krippe vor. Und wenn er dann mit seinem Solo dran war, gelang es ihm immer irgendwie, mir trotz der geblähten Backen und der Klarinette im Mund ein Lächeln zu schenken. Ja, sie war schön, diese festliche Weihnachtsmesse.
Und dann war da noch die Sache mit dem Papa des Jesuskindes. Mir wurde nie so ganz klar, wen ich nun für seinen richtigen Vater halten sollte, den Heiligen Geist, den Erzengel Gabriel oder Gott. Aber darauf kam es auch nicht an, denn es war Josef, der das Jesuskind auf dem Arm trug, wenn Maria mal müde war, der ihm zum Einschlafen Geschichten erzählte und es vor dem grausamen Herodes beschützte. Als Vito in unser Leben trat, fühlte ich mich auf meinem Platz zwischen ihm und meiner Mutter wie die heimliche Schwester des Jesuskindes.
Ostern war schwerer zu verstehen. Da gab es das Kreuz mit all dem Blut dran, dann die drei Tage Finsternis und Grabesstille und schließlich die Auferstehung: eine ziemlich verzwickte Geschichte für ein kleines Mädchen. Vor allem verstand ich nicht, warum Jesus sich als Auferstandener nicht mehr von seiner Familie und den Freunden umarmen lassen wollte, die doch so froh waren, ihn lebend wiederzusehen. Ich fand das richtig garstig, seltsam für jemanden, der eigentlich so gut zu allen sein sollte, aber ich habe mich nie getraut, mir das genauer erklären zu lassen. Was mir jedoch gefiel, war das Glockengeläut, das vom Triumph des Lebens über den Tod kündete. Die Freude darüber spürte ich selbst.
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