Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Kurzatmigkeit, der meinte, nicht zu spät geboren worden zu sein, um noch vom Tausendjährigen Reich zu träumen. Oder ein Chemiker aus Bayern, der Peter beibrachte, wie man eine Bombe bastelte, und dessen Finger mit der Präzision und Leichtigkeit von Schmet terlingen auf einer Blumenwiese über Sprengstoff und Zünder glitten. Aber niemand von ihnen sprach jemals über die Tatsache, dass Peter sich in einer Fremdsprache verständlich machen musste, um im Rathaus irgendeine Bescheinigung zu erhalten, oder dass er lange keine Arbeit hatte finden können, weil er der falschen Volksgruppe angehörte. Nein, diese Leute hatten andere Themen: nationaler Befreiungskampf, Blut und Boden, bedrohtes Grenzlanddeutschtum, Volks- und Kulturgemeinschaft, Ausdehnung des deutschen Volkes in seinem rechtmäßigen Lebensraum.
Peter wusste gar nichts von diesen Leuten, stellte aber auch keine Fragen. Er wusste nicht, dass sie bereits Sprengsätze nach Italien geschmuggelt hatten und dort an konkreten Plänen ar beiteten, die abenteuerliche Namen trugen: »Operation Sophia Loren« etwa, eine Anschlagserie auf von italienischen Soldaten besuchte Bozener Kinos, die aber nicht in die Tat umgesetzt wur den; »Operation Panik«, Anschläge auf den öffentlichen Nahverkehr einiger großer italienischer Städte mit vielen Verletzten in einer römischen Straßenbahn; »Operation Eisenbahnterror«, eine Bombendetonation am Bahnhof von Verona mit rund zwanzig Verletzten, und endlich auch, nachdem man lange darauf hingearbeitet hatte, dem ersten Toten.
An Peter waren diese Leute nur deshalb interessiert, weil er schon als Bub mit dem Gewehr über der Schulter die Grenzpfade abgelaufen war. Weil er sie besser kannte als die Falten im Gesicht seiner Mutter, diese Wege der Gämsen, Hirsche und Steinböcke beiderseits der ungerechten Grenze zwischen Österreich und Italien, weil er Fährten lesen konnte, die schwachen Linien gelockerten Erdbodens zwischen Latschenkiefern und Geröllfeldern. Weil er über diese Wege also auch jene führen konnte, die unter dem Hemd Dynamitkerzen transportierten, die sich an Kontrollstellen vorbeischleichen wollten, um italienische Milizen zu überrumpeln, oder die nach einem Attentat auf der Flucht waren. Und schließlich war Peter interessant für diese Männer, die so viel gebildeter waren als er selbst, weil er vor der Vorstellung zu töten nicht zurückschreckte, und zwar nicht nur mit Wild als Jagdtrophäe.
Was macht einen Menschen zum Mörder? Wann verschmilzt seine Wut wegen einer historischen Ungerechtigkeit mit einem anderen Groll, der persönlicher ist, intimer, peinlicher, weil er noch nie jemandem anvertraut wurde, und lässt diesen Menschen plötzlich zu einem Sprengsatz greifen? Wann schlägt es um, sein Streben nach dem, was er für ein höheres Gut hält, in Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, das er im Namen dieses Gutes verübt? Was befähigt ihn dazu, die Herrschaft der Gebote zu stürzen, die wie eine Mauer die menschliche Gemeinschaft trennt: auf der einen Seite jene, die noch nie getötet haben, und auf der anderen diejenigen, die es getan haben, und sei es auch nur ein einziges Mal? Handelt dieser Mensch leichter aus voller Überzeugung, oder hat er eine Seele, die erkaltet ist, still und stumm wie ein See im Winter, in dem die Barmherzigkeit eingefroren wurde und sich nur noch tief unten, in verborgenen Strudeln, regt, die vielleicht noch die kleinen Steine auf dem Grund bewegen, aber nicht mehr das Eis aufbrechen können? Darüber hat sich Peter nie Gedanken gemacht.
Gerdas Bruder mit den dunklen, kein Licht reflektierenden Augen hatte seinen Sohn Sigi nur wenige Male, und das auch nur für ein paar Stunden, gesehen. Anders als bei Ulli hatte er für ihn auch auf keine Zielscheibe geschossen, auf der in gotischen Buchstaben »Siegfried« stand, denn bei der Taufe seines zweiten Sohnes war er gar nicht dabei gewesen.
Seit Langem schon wartete Leni nicht mehr auf ihren Mann. Die seltenen Male, wenn Peter nach wochenlanger Abwesenheit auf dem Hof ihrer Eltern, wo sie jetzt wieder mit den Kindern lebte, auftauchte, immer auf dem Sprung und meistens in der Dun kelheit, fragte ihn niemand etwas. Nicht nur, weil sie keine Antwort erhalten hätten, sondern vor allem, weil sie sich auf diese Weise selbst keine Rechenschaft über ihre eigene Haltung ablegen mussten. Offiziell war Leni noch Peters Ehefrau, aber längst waren dessen wahre Familie nicht mehr sie, Ulli und der Säugling Sigi,
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