Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
letzten Mal habe ich das Vaterunser bei meiner Firmung gebetet. Vito hatte uns gerade verlassen, und meine Mutter konnte wieder zur Kirche gehen, weil sie jetzt nicht mehr in einer »eheähnlichen« Gemeinschaft, mit anderen Worten, nicht mehr in Sünde, lebte. Zur Feier meiner Firmung hatte sie sich ihr elegantestes Kleid angezogen, eines der vielen Geschenke von Vito, ein Hemdblusenkleid mit weißem Revers. Mit Sicherheitsnadeln hatte sie es in der Taille enger machen müssen, denn seit Wochen nahm sie kaum noch etwas zu sich. Dazu trug sie ein Kopftuch, um die kahlen Stellen zu verdecken, die nach ihrer Er krankung noch nicht wieder zugewachsen waren. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber ihre trockenen Augen mit den dunklen Halbmon den darunter waren für mich noch schwerer zu ertragen als die geröteten und geschwollenen zuvor. Alles hätte ich gegeben, um ihren Schmerz zu lindern, aber das lag nicht in meiner Macht.
Der Pastor stand vor der Kirchentür und gratulierte ihr dazu, dass dieses sündige Leben nun beendet sei. Während ich zu diesem erbarmungslosen Gott, der Gerda Huber nur um den Preis, sie innerlich gebrochen zu sehen, wieder in seinem Haus aufnehmen wollte, nie wieder gebetet habe.
Ich suche mir einen Platz in einer Bank dieser Garagenkirche. Wir sind hier in Rom, der Stadt der tausend Kirchen, der hundert Basiliken, eine jede ein künstlerisches, historisches und ästhetisches Juwel. Die hier ist bestimmt die hässlichste von ihnen. Vor dem Altar steht ein nicht mehr ganz junger, magerer Priester. Er hat das Gesicht einer Ameise, oben breit und unten schmal, die ohnehin schon großen Augen wirken durch die dicken Gläser seiner Brille riesig. Auch seine Finger sind endlos lang, und die Gummisohlen seiner mächtigen Schuhe machen bei jedem Schritt quiekende Geräusche. Er ist mitten in der Predigt und spricht voller Leidenschaft. Seine Zuhörer: viele Frauen – Philippinerinnen, Südamerikanerinnen, Polinnen –, alleinstehende Alte, Obdachlose, der eine oder andere Reisende mit an der Wand abge stelltem Koffer, afrikanische Straßenhändler. Auch die ältere Frau von vorhin entdecke ich wieder, die mit den rattenschwanzartigen Haaren. Wir sind nicht mehr als vierzig, nehmen aber praktisch alle Plätze ein.
»Christus ist wahrhaft auferstanden«, ruft der Priester, wobei seine fast zu eleganten Finger jedem Wort Nachdruck verleihen, während er im Gang zwischen den Bänken auf und ab wandert. Jeder Schritt ein Quieken: quiek, quiek . Er kommentiert das Osterevangelium, die Stelle mit dem leeren Grab, erklärt in allen Einzelheiten, wie der Leichnam umhüllt war, aus welchem Material die Binden bestanden, wie lang sie waren. Er gestikuliert, quiekt (quiek) , fuchtelt mit den Armen.
Und er achtet darauf, dass seine Zuhörer ganz bei ihm sind. »Versteht ihr?«, fragt er die Gläubigen, indem er sie eindringlich anblickt.
Die nicken, und so fährt er quiekend fort, schaut seinen Zuhörern immer wieder in die Augen und schließt dann kurz die eigenen, wie um zu neuer Konzentration zu finden. Jetzt erzählt er von Johannes.
»Der Apostel sah und glaubte (quiek, quiek) . Verstehen Sie, was das bedeutet?«
Dass er selbst glaubt, was er da sagt, ist offensichtlich. Dieser Priester mit dem wunderlichen Insektenkopf vermittelt die Tiefe eines machtvollen, nüchternen Glaubens, des Glaubens eines Men schen, der sich die Finger mit gelebter Barmherzigkeit schmutzig macht. Und jetzt weiß ich auch, woran es mich erinnert, dieses nichtssagende Gotteshaus im Tiefgeschoss unter dem römischen Hauptbahnhof: an eine Missionskirche, die für die zu kurz Gekommenen in dieser Stadt da sein will.
Seine Predigt beschließt er mit einigen Worten zu Giorgio La Pira: »Der bedeutendste Bürgermeister, der je in Italien gewirkt hat.«
Ich blicke mich um. Ob irgendeiner aus dieser Gemeinde, die Hilfsarbeiter aus der Dritten Welt, die Alten mit ihrer kümmerlichen Rente, die amerikanischen Touristen auf der Durchreise, die rumänischen Pflegekräfte – ob einer von ihnen weiß, wer La Pira war? Vielleicht die ältere Frau, die oben in der Bahnhofshalle kleine Kinder mit albernen Kunststücken langweilt? Oder dieser illegal arbeiten de senegalesische Straßenverkäufer mit dem Riesenbündel neben der Bank und dem reglosen, konzentrierten Profil eines westafrikanischen Griots? Auch ich selbst muss mich anstrengen, um aus meinem Gedächtnis einige vage Bruchstücke hervorzukramen: La Pira, war das nicht dieser
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