Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Pfadfinder, Tellerwäscher, Golfcaddie, Leichenbestatter, Sargpolierer, Hamburgerkneter, Metallarbeiter, Hilfsklempner, Testperson für medizinische Experimente, Assistent in einem Hamsterzahnreinigungslabor, Organist in einer Baptistenkirche, Dialogautor von Soapoperas, Vormund wohlhabender Jugendlicher, Übersetzer, Lastwagenfahrer. Sammelt Briefmarken.«
Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass mich das »Briefmarkensammeln« hätte warnen müssen. »Fahr ran«, sagte ich zu ihm und stieg aus dem Wagen.
Unsere Ehe währte zwei Wochen, denn genau vierzehn Tage später sahen wir uns noch einmal wieder, ebenfalls in einem Büro, diesmal allerdings in dem des Commissioner of divorce . Es war jenem ersten ganz ähnlich, nur war der Teppichboden grau und grün, was für gescheiterte Ehen auch besser passte als die Rosa- und Orangetöne der anderen Büros. Die zwei Wochen zwischen Heirat und Scheidung hatte ich in Gesellschaft meines Trauzeugen, der mexikanischen Reinigungskraft, verbracht, der gern bereit war, seine Freude über die Greencard mit mir zu teilen. Was Wesley trieb, weiß ich nicht. Jedenfalls unterzeichneten wir ohne Groll das Dokument, das unsere Schicksale für immer trennte, verließen, geblendet vom harten Wüs tenlicht, diesen grau-grünen Raum und haben uns nie wieder gesehen.
Zwanzig Jahre sind seit meiner kurzen Kostprobe vom mythischen Status einer verheirateten Frau vergangen. Die einzig bleibende Erinnerung daran ist der Umstand, dass ich, wenn ich meinen Personalausweis verlängere, als Familienstand »geschieden« in die entsprechende Spalte des Formulars einzutragen habe. Und nicht »ledig«, wie meine Mutter das ihr ganzes Leben lang musste.
»Was wohl Vito dazu sagen würde?«, hatte Ulli gemeint, als ich ihm von meiner Blitzehe erzählte.
Eine rein hypothetische Frage, die nie eine Antwort fand. Nun jedoch stellt sie sich anders: »Was wird Vito sagen, wenn wir uns wiedersehen?« Mit Sicherheit wird er mich fragen, ob ich verheiratet bin und Kinder habe. Werde ich ihm von Wesley erzählen? Wahrscheinlich nicht. Aber nicht, weil ich mich schäme, sondern nur, weil wir keine Zeit zu verlieren haben mit unwichtigen Dingen. Und von Carlo, der mir gegenüber seine Frau und seine Kinder nicht erwähnt, die mich auch gar nicht interessieren? Würde ich Vito davon erzählen, wenn er wirklich mein Vater wäre? Und falls er das wäre, würde ich dann dieses Leben führen?
Ich spüre, wie sich mir die Kehle zuschnürt. Es wird wohl besser sein, wenn ich mich wieder der Landschaft draußen vor dem Zugfenster zuwende.
Hinter Monte San Biagio sehen die Berggipfel zur Linken nur noch wie spitze Dreiecke aus, reine geometrische Formen ohne Eingriffe von Menschenhand. Auf der anderen Seite, in Richtung Meer, zieht sich weiterhin ein Teppich aus Anbauflächen und Treibhäusern die Ebene entlang. Immer noch scheinen sich die beiden Zugfenster links und rechts auf zwei völlig gegensätzliche, weit voneinander entfernt liegende Welten hin zu öffnen.
Das abgemagerte amerikanische Mädchen, deren Taille schma ler ist als ein Oberschenkel der anderen, reicht der Gefährtin einen Keks, hält ihn ihr in einiger Entfernung vor die Nase wie ein Dompteur, der lockend und hinhaltend Gehorsam verlangt. Der gierige Gesichtsausdruck der Dicken verrät, dass sie zu allem bereit ist, um an diesen Keks zu gelangen. Der Gesichtsausdruck der Mageren zeigt, dass sie das sehr genau weiß. Erst nach einer ganzen Weile gibt sie mit einem gönnerhaften Lächeln nach, und die Fresssüchtige schnappt sich den Keks, entzieht ihn sofort dem Blick der Kameradin, die gleichzeitig Urheberin und Zeugin ihrer Erniedrigung ist, und wendet sich kauend wieder ihrem Buch zu. Der Titel in verschnörkelten Goldbuchstaben ist nicht zu entziffern, aber darunter steht: A true story . Ich stelle mir eine leidvolle Lebensgeschichte vor, einen dramatischen Erfahrungsbericht mit allem, was dazugehört – schwierige Kind heit, erlittene Übergriffe und Mut machende Befreiung am Ende.
Und endlich, nach dem nächsten Tunnel, liegt das Meer vor uns. Nahe, sonnenbeschienen und vor allem, nach der Enge durch die kargen Bergketten, offen und weit. Das Bild wird belebt durch Windsurfer, durch die gleichmäßig ausgerichteten Reihen der Tellmuschelkulturen, durch Menschen, die den Ostertag für den ersten Strandausflug des Jahres genutzt haben. Der Bahnhof von Formia liegt etwas höher als das Städtchen und bietet einen atemberaubend weiten
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