Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
Vom Netzwerk:
gelehrt, dass es für die Liebe zum Nächsten keine Einschränkungen gab, und sie und ihr Mann Sepp waren sehr gläubige Menschen.
    Dennoch kam es immer wieder vor, dass entfernte Verwandte aus einem Nebental, eine halb taube Großtante vielleicht, die Mut ter einer Frischverheirateten, die gerade in die Familie gekommen war, sich erkundigten, wer denn dieses kleine Mädchen sei.
    »Fo wem isch de Letze?«
    Maria, Sepp, Eloise und Ruthi versuchten es zu erklären.
    »Die ist von den Hubers, aber nicht von denen vom Hof nebenan, sondern von denen aus Schanghai. Deren Tochter ist in die Klemme geraten und …«
    Was die Neugierigen, die da fragten, aber erfahren wollten, war nicht Evas Geschichte mit all ihren schwierigen Begleitumständen – einer Mutter, die sich allein durchschlug, einem Onkel, der in den Terrorismus abgeglitten war, einem Großvater, bei dem einem eiskalt wurde, wenn man ihm in die Augen sah. Nein, was sie erwarteten, war jene Auskunft, die wie mit ein paar Nadelstichen das tröstliche Gewebe normaler Familienzugehörigkeit zu stopfen in der Lage war. Großmütige Menschen wie Sepp und Maria, die sich an losen Fäden und ausgefransten Stellen nicht störten, waren rar. Und so kristallisierte sich mit der Zeit für solche Fälle eine andere Antwort heraus.
    »Fo wem isch de Letze?«
    »Fo niamandn.«
    Bis sie mit dreizehn in Bozen aufs Internat und in die höhere Schule kam, wohnte Eva in den insgesamt zehn Monaten der Sommer- und Wintersaison bei Maria, Sepp, Ruthi und der ganzen Familie Schwingshackl. Im November und gleich nach Ostern begann Eva von dem Steilhang aus, an dem der Hof klebte, die Autos unten im Tal zu beobachten, die wie fleißige Ameisen auf der Provinzstraße längs des Flusses hin und her wuselten. Die Erfüllung ihrer Vorfreude, so lernte sie von klein auf, saß in einem blauen Bus mit gelben Buchstaben. Schon früh verstand sie es, all die Fahrzeuge, die da unterwegs waren, voneinander zu unterscheiden: Autos, Lastwagen, Traktoren, Touristenbusse, Lieferwagen. Wenn der Autobus aus Bozen aus der Kurve unten im Tal auftauchte, begann ihr das Herz in der Brust zu hüpfen wie eine Grille in der Hand. Ihr Blick folgte ihm, während er an der Kreuzung abbog und die Kehren in Angriff nahm, eine Weile zwischen den Tannen verschwand, wieder auftauchte und schließlich schnaufend auf dem Platz vor der kleinen Kirche anhielt.
    Dann ließ Eva alles stehen und liegen, riss sich von Marias Hand los, brach das Spiel ab, das sie gerade mit Ulli gespielt hatte, wand sich aus Ruthis Armen, und auch sich selbst hätte sie zurückgelassen, nur um noch schneller laufen zu können, wobei sie aber niemals stolperte – aus Angst, dadurch Zeit mit Wiederaufstehen zu verlieren. Tagelang rannte sie umsonst zum Platz hinunter: Wie eine Verheißung öffneten sich die Türen des Busses, doch stiegen nur Menschen aus, die sie nicht interessierten, weil sie nicht ihre Mutter waren. Doch jedes Mal in all den Jahren, im Frühling wie im Herbst, geschah es dann wieder, wenn sich in Evas Brust bereits eine traurige Leere auszubreiten begann, ein lähmendes Grau, dass zwei lange Beine auf dem Absatz in der Bustür erschienen, ein vertrautes Gesicht, dessen Schönheit gleichwohl immer wieder überraschte, zwei kräftige Arme, die sie hochhoben und fest an sich drückten, und ein Duft, der das reine Glück bedeutete, der Duft ihrer Mutter. Gerda war wieder da.
    Außerhalb der Saison waren die Touristen, die sonst in ihrem Heimatstädtchen Ferien machten, während sie selbst im Meraner Hotel von Frau Mayer arbeitete, fast alle verschwunden. Leere möblierte Zimmer, wo sie mit Eva wohnen konnte, gab es dann reichlich, und es war auch nicht schwer, eines zu mieten. Mittlerweile verdiente Gerda genug, um für sich und ihre Tochter sorgen zu können. Nicht dass Gerda und die anderen Angestellten im Hotel angemessen bezahlt worden wären. Aber niemand lehnte sich auf: Alle kannten sie die Geschichte der »Gewerkschafterin«, wie sie immer noch von allen genannt wurde.
    Von dieser italienischen Kellnerin, die einige Jahre bevor Gerda kam, gefeuert wurde, hatte sie durch Nina erfahren. Die junge Frau war sehr viel gebildeter als das übrige Personal gewesen, hatte die elfte und zwölfte Klasse eines Wirtschaftsgymnasiums besucht und stand kurz vor dem Abschluss, als ihr Vater, der sich mit Überstunden in einem Stahlwerk abrackerte, um der Tochter das Diplom und damit den Zugang zu einem besseren Leben zu ermöglichen,

Weitere Kostenlose Bücher