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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Ausblick auf den Golf. Doch noch nicht einmal jetzt, da das belebende Mittelmeerlicht durchs Zugfenster einfällt, da uns Agaven, Bougainvilleen, Bleiwurz, Hibiskus, Glyzinien, Jasmin und Oleander ihre Farbenpracht ent gegenschleudern, da das Meer wie Geschenkpapier glitzert und das Geschenk darin Italien ist, noch nicht einmal jetzt heben die Mädchen den Blick von ihren Bestsellern. Ich empfinde eine ähnliche Enttäuschung wie eine stolze Hausherrin, deren zerstreute Gäste die Schönheiten ihrer Wohnung nicht bemerken.
    Hausherrin?
    Plötzlich fällt mir ein einfacher Syllogismus ein:
    Südtirol ist meine Heimat –
    Südtirol gehört zu Italien –
    ergo
    Italien ist meine …
    Was heißt Heimat auf Italienisch? Heimat, ein Wort, das nicht zu Italien passt – zu viel hat es von Kümmelbrot und Adventskalender, von warmer Stube, wenn es draußen friert. Patria (Vaterland) jedenfalls trifft es nicht, das schmeckt zu stark nach granitenen Denkmälern, nach von kurzsichtigen Politikern gezogenen Grenzen, nach schlecht ausgerüsteten jungen Burschen, die von alten Generälen zum Sterben hinausgeschickt werden. Paese (Land), ja das ist es:
    Italien ist mein Land.
    Das habe ich mir zuvor noch nie so gesagt. Aber vielleicht ist es kein Zufall, dass ich es ausgerechnet heute tue, während ich dieses lang gestreckte, prachtvolle und verschandelte, sich mit Blumen, Sehenswürdigkeiten und Bauruinen schmückende Land ganz durchquere, um zu dem einzigen Mann zu gelangen, bei dem ich mich jemals zu Hause gefühlt habe. Dem Mann, der nicht mein Vater wurde, aber fast.
    Vito.

196 5 – 1967
    Es war immer dieselbe Frage.
    »Fo wem isch de Letze?« Zu wem gehört dieses Mädchen?
    Es konnte sich um die Hochzeit des Sohnes einer Großtante handeln. Oder um die Taufe eines Enkelkinds, bei der die Paten eleganter gekleidet waren als alle anderen Gäste, weil es ihr großer Tag war. Oder auch die gemeinsame Firmung von Vettern ersten, zweiten oder dritten Grades, die im selben Jahre zwölf wurden und zuvor in der Kirche vom Priester die Hostie empfangen hatten, aufgereiht wie junge Hühner in einer Legebatterie. Jedenfalls war es immer eine große Schar von Menschen in Festtagskleidern – mehr als hundert Personen, die Frauen im Dirndl, die Männer jedoch, um nicht altmodisch zu erscheinen, mit Anzug und Krawatte –, die sich auf dem Platz zwischen dem Stall und dem Haus der Familie Schwingshackl für das Festessen versammelte, das auf die Zeremonie in der Kirche folgte. Jeder war mit fast allen anderen blutsverwandt oder verschwägert: Alle waren sie einander Enkelkinder, Neffen oder Nichten, Onkel oder Tanten, Großväter oder Großmütter, Paten, Geschwister, Söhne oder Töchter, Cousins oder Cousinen, Urenkel, Schwäger oder Schwä gerinnen, Schwiegereltern, Schwiegersöhne oder Schwiegertöchter. Wie mit unsichtbaren Fäden waren die vielfältigen Bindungen zu einer Decke verwoben. Einer großen Decke, die an manchen Stellen schadhaft sein konnte, weil zwei Brüder nicht mehr miteinander sprachen oder sich Schwiegermutter und Schwiegertochter offenkundig nicht leiden mochten, die sich aber dennoch über alle legte und niemanden ausschloss. Niemanden – bis auf Eva.
    Wie eine Boje trieb sie in diesem Meer von Menschen, unter allen die Einzige, die nicht mit den anderen verwandt war, auch wenn Sepp und seine Frau Gerdas Tochter nie anders als ihre eigenen Kinder behandelten. Marias dreizehn Schwangerschaften hatten die Konturen ihres Körpers immer weiter abgeschliffen, sodass er mittlerweile jede klare Form verloren hatte. Auch die Farbe ihrer Augen ließ sich nicht mehr eindeutig erkennen, doch ihr Blick war immer noch so scharf und strahlend wie die Brillanten auf der Brosche, einem kleinen Pfau, die sie sich bei Familienfeiern ans Dirndl steckte. Wie Frau Mayer trug sie ihre Haare geflochten um den Kopf geschlungen, doch war der Zopf der Hotelchefin das Ergebnis von Präzisionsarbeit, so wirkte der von Maria naturgegeben und notwendig wie eine Gerstenähre, ein Baum oder eine Kartoffel. Ihre Hände waren so rau, dass sie Evas zarte Fingerchen fast kratzten, wenn diese sie um schlossen, vermittelten ihr jedoch zugleich eine tröstliche Ruhe, die – fast – alle ihre Ängste vertrieb. Man konnte sich nur wundern, wie Maria bei dreizehn eigenen Kindern und Dutzenden von Enkelkindern noch Zeit fand, Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen spazieren zu gehen, das ihr noch nicht einmal »gehörte«. Doch ihr Glaube hatte sie

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