Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
von einem hundert Kilo schweren Haken erschlagen wurde. So musste sie die Schule abbrechen, um ihrer verwitweten Mutter zu helfen, die Familie mit den drei jüngeren Geschwistern durchzubringen. Zwei Jahre hatte sie schon im Hotel von Frau Mayer gearbeitet, als ihr eines Tages in ihren Arbeitspapieren auffiel, dass stets nur für einen Monat pro Saison Sozialbeiträge entrichtet worden waren und nicht für fünf, wie es korrekt gewesen wäre. Und dagegen hatte sie sich gewehrt. Aber nicht nur das: Sie hatte es sogar gewagt, noch eine weitere Forderung zu stellen. Der wöchentliche Ruhetag begann um fünfzehn Uhr und endete um elf Uhr am nächs ten Tag. Das waren vier zusätzliche Arbeitsstunden, die, so ver langte sie, vergütet werden müssten. Ihr und dem gesamten Personal.
Unerhört. Frau Mayer feuerte sie auf der Stelle und sorgte dafür, dass alle künftigen potenziellen Arbeitgeber des Mädchens von der Sache erfuhren. Und so kam es, dass die ›Gewerkschaf terin‹, wie sie mittlerweile von allen genannt wurde, im Hotelwe sen nirgendwo mehr eine Stelle fand, obwohl der Fremdenverkehr boomte und überall händeringend Personal gesucht wurde.
Ninas Gesichtsausdruck wirkte ganz sachlich, während sie Gerda diese Geschichte erzählte. Weder das Verhalten von Frau Mayer noch das der jungen Frau kommentierte sie. Gerda sollte sich selbst ihre Meinung bilden.
Und das tat sie. Sie überprüfte ihre Arbeitspapiere und stellte fest, dass die letzten Jahre ihres Lebens scheinbar ein einziger sorgloser Urlaub gewesen waren. Eingetragen waren nicht mehr als eine Handvoll Arbeitsstunden pro Jahr. Und sie begriff, dass Frau Mayer eine Zeitreisende war, die von der Gegenwart in die Zukunft sprang und dort Gerda die Altersrente stahl.
Diebin, hätte sie am liebsten geschrien.
Doch Gerda besaß nur zwei Dinge im Leben: eine Tochter und eine feste Arbeit.
Außerdem hatte Gerda es bereits kennengelernt, das Entsetzen, wenn man plötzlich vor dem Nichts stand.
Also hielt Gerda den Mund.
Täglich wurden die Schmerzen in Herrn Neumanns Beinen heftiger, und immer häufiger musste er die Küche verlassen, um Wasser abzuschlagen: Sein Diabetes wurde schlimmer. An einem Tag im Frühling stand er an seinem Arbeitstisch, und während er das von den Durchblutungsstörungen herrührende dumpfe Pulsieren in den Waden zu ignorieren versuchte, war er damit beschäftigt, mit geschickten Fingern – die einzigen noch feingliedrigen Teile seines Körpers – ein Zicklein auszunehmen und zu zerteilen. Mehr und mehr verlor das Gerippe jede Ähnlichkeit mit einem Tier und wurde zu reiner Materie. Als er fertig war, lag zu seiner Rechten ordentlich sortiert das tote Fleisch, zu seiner Linken ein chaotischer Haufen funktionslos gewordener Eingeweide.
Wie so oft hatte Gerda ihm von der Salattheke aus aufmerk sam zugesehen. Jetzt trat sie auf den Küchenchef zu und deutete auf die Leber, deren tiefrote Farbe an eine fleischfressende Pflan ze erinnerte. Durch den kleinen, herzförmigen Vorsprung, der wie ein Gaumensegel daran befestigt war, sah sie wie ein von den restlichen Eingeweiden unabhängiges Wesen aus. Ob sie mal etwas damit versuchen dürfe, anstatt sie wegzuwerfen, fragte Gerda schüchtern.
Einen Augenblick lang vergaß Herr Neumann das lästige Pulsieren in den Beinen. Schon lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, denn er hatte immer daran geglaubt, dass Gerda früher oder später den Wunsch äußern würde, etwas ausprobieren, erfinden, experimentieren zu dürfen. Bemüht, ihr seine Genugtuung nicht zu zeigen, nickte er nur. Gerda schnitt die Leber in dünne Streifen, schwenkte sie kurz in der heißen Pfanne, würzte mit Thymian, Majoran, Schalotten, Knoblauch und Zitrone, gab das Ganze in eine mit Portulak gefüllte Schüssel und spritzte zum Schluss noch einige Tropfen Balsamico darüber. Mit stolzer Miene, wie ein kleines Mädchen, das ein gelungenes Bild vorzeigt, reichte sie Herrn Neumann ihre Kreation. Der tauchte drei Finger hinein, angelte sich, während Gerda ihn gebannt beobachtete, eine Handvoll Salat und Leberstückchen heraus und steckte sie sich in den Mund.
Der Geschmack war harmonisch, würzig, gut. Wie Gerda: wunderbar einfach und gelungen.
V on seinem Platz für die ersten Gänge und Beilagen aus hatte Hubert mit duldsamer Miene die Szene beobachtet. Jetzt reichte er Gerda eine Handvoll gehackten Schnittlauch.
»A bissl Schnittla aa …«
Herr Neumann schüttelte energisch den Kopf. Gerdas Kreation
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