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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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besaß bereits alles, was für ein gelungenes Gericht erforderlich war; jede weitere Zutat wäre zu viel gewesen.
    Hubert fuhr auf seinen langen, dürren Beinen herum und wandte sich wortlos wieder seinen ersten Gängen zu. Er hatte gerade eine Portion Schlutzkrapfen in Butter gewendet und warf nun den verschmähten Schnittlauch entschlossen, als stoße er eine Beleidigung aus, in die Pfanne hinein.
    Eines Morgens waren Herrn Neumanns Beine nach dem Aufwachen so starr wie zu lange gebratene Schweinekoteletts. Der Arzt, den Frau Mayer eilig herbeirief, verabreichte ihm Insulin und blutverdünnende Mittel und erklärte, dass die Küche einige Tage ohne ihren Chef auskommen müsse.
    Noch nicht einmal einen Meter lagen die Arbeitstische für die ersten Gänge und die Fleischgerichte auseinander, doch Herrn Neumanns Reich war für Hubert immer so unerreichbar gewesen wie für alle anderen in der Küche auch. Jetzt brachte er sich sofort als Ersatz für den Chefkoch ins Gespräch. »Vorübergehend«, wie er noch hinzufügte, aber es war offensichtlich, dass er nun endlich seine Chance gekommen sah. Doch er irrte sich.
    Herr Neumann hatte eine Frau und drei Kinder, die in einer netten Wohnung mit Geranien vor den Fenstern im oberen Vinschgau lebten. Wie der kleinste Küchenjunge, wie Gerda, wie das gesamte Personal des Hotels kehrte auch Herr Neumann nur außerhalb der Saison, wenn das Hotel seine Pforten schloss, zu seiner Familie heim. Während der Arbeitsmonate bewohnte er eines der Einzelzimmer, die ausgewählten Angestellten zur Verfügung standen: Außer ihm genoss nur noch der Maître das Privileg, nach Feierabend von den Ausdünstungen und den störenden Schlafgeräuschen der anderen verschont zu bleiben. Vor der Visite des Arztes hatte Herr Neumann nie jemanden in dieses Zimmer gelassen. Nun aber war Gerda da.
    Seit diese schöne, wunderschöne, gar zu schöne Frau als Sech zehnjährige in seiner Küche aufgetaucht war, gab es etwas, was er lieber als alles andere mit ihr zu tun wünschte. Und jetzt tat er es: Er machte sich daran, sie in die Geheimnisse des Fleisches einzuweihen.
    Elmar musste ihr helfen, ein fünfunddreißig Kilo schweres Rinderviertel zum Zimmer unter dem Dach hinaufzuschleppen. In den Wintermänteln, die fürs Betreten der Gefrierkammer gedacht waren und die jetzt ihre Kleider vor Blut und Fett schützten, waren sie mächtig ins Schwitzen geraten und hatten auf der steilen Holztreppe, auf der Gerda ihre Schwangerschaft hatte abbrechen wollen, noch einmal verschnaufen müssen. Oben musste Gerda das Schreibpult von Herrn Neumann, das am Fenster mit Blick auf die Berge stand, vor sein Bett rücken und eine Arbeitsplatte darüberlegen. Darauf deponierte sie die ganze Messerausrüstung, die sie von der Küche mit nach oben genommen hatte: Tranchiermesser, Entbeiner, Filetmesser, Knochenbeil, Vorlegegabel, Wetzstahl, Messer in speziellen, unverwechselbaren Formen für Braten, Schinken, Wurst oder Wild. Gerda konnte es kaum fassen, all diese mustergültig, perfekt funktional konstruierten Gerätschaften zur Hand nehmen zu dürfen. Sie zu berühren und zu benutzen, ja selbst sie zu reinigen, war das alleinige Vorrecht des Chefkochs gewesen. Der kalte Glanz ihres Stahls ließ die Tristesse des Krankenzimmers noch deutlicher werden.
    Herr Neumann schämte sich nicht für die abgestandene Luft, das kleine Fenster, die bescheidene Einrichtung dieser Unterkunft, die er seiner Stellung als Chefkoch zum Trotz bewohnte. Es war ihm leicht ums Herz, und in seinen Beinen pulsierte es auch nicht mehr, oder zumindest merkte er nichts davon. Gerda saß neben ihm auf dem Bett, und er führte ihr die Hand und zeigte ihr, wie man entbeinte und tranchierte, zerlegte und ausnahm.
    Das mächtige Rinderviertel, so erklärte er ihr, sei wie der Marmorblock unter den Händen eines großen Bildhauers, und die Kunst bestehe in nichts anderem, als seine natürlichen Formen zur Geltung kommen zu lassen: den langen vollen Zylinder des Filets, das Dreieck der Nuss, die nachlässig geformte Pyramide der Haxe, mit diesem Knochen, der plump daraus hervorrage, aber doch so voller Geschmack sei …
    Querrippe, Entrecôte, Steak, Lende, Kugel, dickes Bugstück, Zungenstück, Hüfte, Hals, Zwerchfell, Schulter, Schulterspitze, Dünnung, Schenkel. Die deutschen Begriffe waren genau und unmissverständlich wie alles in dieser Sprache der Techniker und Philosophen. Die Angestellten aus Venetien, aus Kalabrien oder Sizilien, die im Bozener

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