Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
die Finger in der Schublade eingeklemmt und die Schuhsenkel zuzubinden vergessen hat. Alles an ihm ließ ihn träge erscheinen, vielleicht auch schwach, jedenfalls nicht als einen Mann der Tat, sondern – so dachte der Latinist Magnago – eher einen cunctator . Dennoch hatte der Obmann bei mehr als einer persönlichen Unterredung feststellen können, dass hinter diesem ausdruckslosen Gesicht ein Gehirn von ausgefeilter politischer Intelligenz arbeitete. Im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern des italienischen Staates war dieser Mann neben ihm nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller. Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er auch sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam.
Magnago wusste nur zu gut, dass der raue deutsche Akzent, mit dem er sich perfekt in der Sprache Dantes auszudrücken verstand, verbunden mit der Tatsache, dass er im Krieg Wehrmachts angehöriger gewesen war, bei seinen italienischen Gesprächspartnern auf Anhieb Assoziationen zum Nationalsozialismus weckte. Und er hatte auch erfahren, wie zwecklos der Versuch war, ihnen klarzumachen, dass nicht alle deutschen Offiziere Nazis gewesen seien und dass er in der Armee des Deutschen Reiches gedient habe, weil die Südtiroler vor die Wahl gestellt worden waren … Nein, unmöglich, er konnte nicht jedes Mal aufs Neue einen langen Vortrag über die komplizierte Südtiroler Geschichte halten.
Und so hing das Wort »Nazi« fast immer unausgesprochen im Raum, wenn er sich mit jemandem im italienischen Parlament unterhielt, bedeutungsschwer wie eine freudsche Fehlleistung. Und er war sich dessen bewusst. Hin und wieder wurde die Schmähung auch offen ausgesprochen, vor allem von gewissen Vertretern der Rechten, ausgerechnet jenen Leuten also, die, wenn man schon beim Thema war, als Allererste hätten erklären müssen, was sie nach dem 8. September getrieben hatten, und die sich jetzt nicht schämten, die deutschstämmigen Südtiroler als austriacanti , mit dem Namen für die Verräter während des Risorgimento also, zu verunglimpfen. Als wäre die von den Faschisten begonnene Italianisierung Südtirols der »Fünfte Unabhängigkeitskrieg« gewesen. Als wären auch hier in Südtirol die Italiener die Unterdrückten gewesen und die Österreicher die Besatzer, und nicht umgekehrt. Magnago hatte in Bologna gelebt und studiert und besaß dort noch immer viele enge Freunde aus Studienzeiten. Aber eben weil er sie gut kannte, wusste er, dass Italiener, vor die Wahl gestellt, sich stets lieber in der Rolle des Opfers als in der des Täters sahen. Wenn nötig, auch gegen die historische Wahrheit. Für diesen typisch italienischen vittimismo gab es in der Sprache Goethes keine direkte Entsprechung, und so kam es, dass auch er, Magnago, bei Bedarf stets dieses italienische Wort benutzte, selbst wenn er deutsch sprach.
Doch der Mann neben ihm war zum Glück geistig nicht so träge, wie es viele seiner Landsleute waren. Gewiss war er nicht der einzige intelligente italienische Politiker. Da gab es auch noch einen Giulio Andreotti, dessen scharfsinniges Differenzieren allerdings in spitzfindige Borniertheit umschlagen konnte. Oder einen Amintore Fanfani, ein Mann von raffinierter Intelligenz, an dem jedoch zugleich ein boshafter Neid fraß, wie er für klein gewachsene Menschen typisch war. Magnago wusste, dass sein eigenes Gardemaß bei dem Christdemokraten eine unüberwindbare Abneigung gegen ihn wachrief, die von etwaigen Verhandlungen mit diesem italienischen Politiker nichts Gutes hätte erwarten lassen. Nein, dachte der Obmann, die Intelligenz dieses Mannes hier neben ihm, der sich zwar mit zerstreuter Teilnahmslosigkeit den Wein eingießen ließ, sich dann aber doch mit einem gemurmelten »Grazie« beim Kellner bedankte, war genauso scharf wie die von Andreotti oder Fanfani, jedoch um vieles menschlicher. Als er, Magnago, nach jahrelangen Bemühungen, der italienischen Regierung die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung für Südtirol vor Augen zu führen, nach Jahren des Antichambrierens in römischen Barockpalästen mit kurzen, beiläufigen Gesprächen und raschem Händeschütteln für die Fotografen, als er also diesen Mann zum ersten Mal traf, hatte er ihn gefragt:
»Wie viele Minuten geben Sie mir?«
»So viele sie brauchen«, hatte er geantwortet.
Und während er sich jetzt den Mund abtupfte mit einer Leinenserviette, die Frau Mayer persönlich in einer Kunstweberei im Vinschgau
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