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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Gefangenen während des Ersten Weltkriegs Aufsehen erregt hatte? Und dann dieser Hubschrauber. Wie ein verkehrter Deus ex Machina , eine strahlende Inkarnation des Bösen, war er am Himmel aufgetaucht und dann – wie jedermann wusste, weil jeder Satz des Wortgefechts zwischen den beiden Offizieren unzählige Male nacherzählt wor den war – von einem sagenhaften Helden besiegt worden, ausgerechnet vom Befehlshaber dieser Razzia, jenem Mann also, der bis dahin die Rolle des Schurken eingenommen hatte. Es war daher nur passend, dass Peter, dessen Flucht die Ereignisse erst ausgelöst hatte, dort auf dem kleinen Friedhof beerdigt wurde. Sollten sie doch ruhig noch einmal anrücken, die Soldaten, die ihn damals gesucht hatten. Sie würden ihn sogar finden, ganz leicht, ohne noch einmal eine solche »Schweinerei« veranstalten zu müssen.
    Für Peter läuteten heute die Glocken, deren Schläge die anrückenden Soldaten seinerzeit als Warnsignal gedeutet hatten. Lukas, der Küster, dessen Härchen auf den starken Unterarmen inzwischen noch ein wenig grauer aussahen, zog an dem dicken Seil, das vom Turm hinabhing. Beschwert durch sein Gewicht, zog das düstere Geläut ins Tal hinunter, der Kleinstadt und der Provinzstraße entgegen, von der hin und wieder das Dröhnen eines einzelnen Motors zu ihnen hinaufdrang.
    Außer den engsten Verwandten erwies nur eine kleine Abordnung der Schützen Peter die letzte Ehre, jene Kameraden, mit denen er damals im »Tränenbus« nach Mailand zu dem großen Prozess gefahren war. Diese Kameraden waren seinem Weg nicht mit letzter Konsequenz gefolgt, waren nicht in den Bergen untergetaucht und hatten auch keine Attentate verübt. Nur ihre Paraden am Herz-Jesu-Tag, an dem des heldenhaften Widerstands gegen Napoleon gedacht wurde, hielten sie weiter ab und setzten sich so für die »Erlösung der Heimat« ein. Einmal hatte Maria beim Kartoffelschälen in ihrer Stube leise gefragt, was eigentlich der Herrgott mit alldem zu tun hatte, mit dem Waffengetue, dem Marschieren, dem Brüllen von Befehlen, die schärfer als an einer Kriegsfront klangen. Und Sepp hatte geantwortet, soweit ihm bekannt sei, mache Napoleon schon seit anderthalb Jahrhunderten niemandem mehr Ärger, und selbst dieser Teufel in Menschengestalt habe jetzt endlich mal seine Ruhe verdient.
    Es wurden immer mehr, die so über die Schützen dachten. Doch diese Männer in ihren Lederhosen, den grün-rot gestreiften Westen, den Kniestrümpfen mit weißer Spitze und ihren Schuhen mit den Silberschnallen schienen wirklich in jener Ära stehen bleiben zu wollen, als Napoleon ganz Europa mit seinen Kriegen überzogen hatte. Gern hätten sie zu Peters Ehren auch einige Salven abgefeuert, wie es sich zum Gedenken an einen Helden gehörte. Doch in diesen Zeiten der Attentate und Straßensperren war ihnen seitens der Behörden die Benutzung ihrer Waffen untersagt. Selbst diese lächerlichen Vorderlader mit den trompetenförmigen Läufen, die so ungenau schossen, dass es schon ein Wunder war, wenn man sich nicht ins Gesicht traf, mussten stumm bleiben. Keine Gewehrschüsse also gab es für Peter, nur einen Kranz mit einer Schleife, auf der in gotischen Buchstaben Im Schoß der Heimaterde stand.
    Leni starrte auf den Sarg. Sie hatte als Einzige gesehen, was er enthielt. Mit eigenen Augen die leblose Materie zu betrachten, zu der ihr Mann geworden war (identifiziert hatte sie ihn anhand einer Narbe auf einem Stück seines Knöchels), hatte weder Schmerz noch Ekel oder Wut bei ihr hervorgerufen, sondern nur eine allumfassende Ratlosigkeit. Wie kleine, unreife Früchte hingen Ulli und Sigi an ihrem Arm, mit verwirrten Gesichtchen, die zu fragen schienen: Würde dieser Sturm sie am Ast hängen lassen oder früher oder später auch zu Boden reißen?
    Hermann sah einigermaßen vorzeigbar aus. Er hatte sich gewaschen und rasiert, und sein Sonntagsanzug war sauber, nur an manchen Stellen von Motten zerfressen. Die letzten Hände, die diese Kleidungsstücke eingeseift, ausgewaschen, aufgehängt, gebügelt und zusammen mit einigen Reiskörnern gegen die Feuchtigkeit in den Schrank gelegt hatten, waren die von Johanna gewesen – zu deren Beerdigung Hermann in Arbeitskleidung erschienen war, den Laster voller Holz, vor dem Friedhof geparkt. Als man jetzt aber den Sarg mit seinem Sohn darin in den rechteckigen Schacht hinunterließ, wirkte sein Schmerz so entblößt, dass es fast obszön war. Seine Augen waren wie Genitalien auf einem Pornofoto: roh und

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