Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
für ein Verlust, denke ich.
Nicht für alle, entgegnet Ulli. Gerade so, als säße er neben mir, in diesem Zug auf dem Weg nach Süden.
Als Kind habe ich mich gefragt, warum Ulli mich nie anfasste. Alle Jungs in unserem Alter taten es, hatten es zumindest schon mal versucht oder hofften den Mut zu finden, es zu tun. Nur er nicht. Nie. Weil wir zusammen aufgewachsen waren? Weil wir verwandt waren? Ach was! Das Betatschen junger Cousinen ist ja ein bewährter Übergangsritus, ein fast schon gesellschaftlich geforderter Entwicklungsschritt. Das war es also nicht. Aber was dann? Ich hatte keine Ahnung.
Ullis Pubertät kam spät und dauerte lang. Als seine Stimme endlich dunkler zu werden begann, starrten mir die anderen Jun gen längst häufiger in den Ausschnitt als in die Augen. Während die Gleichaltrigen bereits mit lässiger Ungeniertheit ihre Sehnsucht nach sexuellen Kontakten überspielten, hatte er noch kein einziges Haar am Leib. Dann, eines Tages, da war er schon fast zwanzig, erzählte mir Ulli, dass er mit einer Frau zusammen gewesen sei. Einer altbewährten Tradition folgend, hatte er sich für seine sexuelle Initiation eine Touristin aus Deutschland ausgesucht.
»Hübsch?«, fragte ich.
»Erfahren«, antwortete er, und ich verstand, dass ich nichts zu befürchten hatte.
Er erzählte davon wie von einer erledigten Aufgabe, einem Ziel, das erreicht worden war. Eigentlich nichts Ungewöhnliches: Alle Jungs redeten so über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Doch ein Mädchen zu finden, das alles zuließ und an dem sie sich wenigstens beim ersten Mal unsicher und unbeholfen festklammern konnten, war für sie bloß der Einstieg, um es dann immer und immer wieder zu tun. Ulli hingegen wirkte wie ein Bergsteiger, der den Everest bestiegen hat: Nachdem der Gipfel nun mal erreicht war, gab es kein Verlangen mehr, es noch einmal zu versuchen.
Als er mir von seiner ersten Nacht mit einem Mann erzählte, war das völlig anders. Da waren seine Augen aufgerissen vor Schreck und Begeisterung, von der Ungeheuerlichkeit dieser Entdeckung.
»Das bin ich«, sagte er zu mir, als habe er endlich nach langer Suche seinen eigenen Namen gefunden. Von diesem deutschen Mädchen, der ersten und letzten Frau für ihn, hatte er da gegen gar nicht mehr gesprochen.
Erst viele Jahre später, nachdem er sich hatte anhören müssen (von Männern, niemals von Frauen, auch den verklemmtesten nicht), Hitler hätte mit Leuten wie ihm kurzen Prozess gemacht, nachdem seine Mutter ihm versichert hatte, sie habe ihn natürlich immer noch lieb, er brauche doch nur zu einem Arzt zu gehen, heute könne man doch alles heilen und seine Krankheit bestimmt auch, Jahre nachdem er in London gewesen war und in Berlin, wo er sich, wie er erzählte, wie ein Mann unter vielen gefühlte habe, wie ein ganz normaler Homosexueller, und auch nachdem ich ihm schon viele Male mein Bett zur Verfügung gestellt hatte, damit er und seine Freunde nicht wie läufige Kater durch die Wälder streifen mussten, erst nachdem all das passiert war, erzählte er mir, gestand er mir, dass er, um in das blonde Mädchen eindringen zu können, die Augen hatte schließen und sich vorstellen müssen, dass sie ein Mann sei.
Wie immer in solchen Augenblicken saßen wir zusammen in Marlenes warmem Führerhaus. Es war wenig Schnee gefallen, und Schneekanonen, um auch in den wärmsten Wintern die Pisten mit einem geschlossenen Weiß zu überziehen, gab es noch nicht. Wie jede Nacht kämpfte Ulli gegen die braunen Flecken, die sich wie Melanome auf der Haut des Berges ausbreiteten, indem er den Schnee zusammenschaufelte, neu verteilte, von den Pistenrändern weiter in die Mitte schob. Er hatte mir immer alles erzählt, oder zumindest kam es mir so vor: von den Bahnhofstoiletten, von seinem Wehrdienst in Venetien (»Glaub ja nicht, dass alle Soldaten hinter Frauen her sind, erst recht nicht die Offiziere«), von Begegnungen in Stadtparks, von fast gesichtslosen Körpern, von fast körperlosen Genitalien. Doch dass er sich heimlich einer Fantasie hatte bedienen müssen, um diese einzige Frau in seinem Leben nehmen zu können, dafür schämte er sich so sehr, dass er es mir jahrelang verschwiegen hatte. Weil ich das nicht verstehen konnte, bat ich ihn, es mir zu erklären.
Ulli war damit beschäftigt, die große Schaufel vor Marlenes Schnauze auf und ab zu manövrieren. In seinen Augen glänzte der Widerschein des Schnees, der im Scheinwerferlicht funkelte.
»Du hast ja keine
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