Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
recht daran geglaubt, an die Umwandlung des wiederaufgebauten Alpino-Denkmals zum Sym bol der Versöhnung zwischen den Südtirolern und den italienischen Streitkräften. Gerade in letzter Zeit, angesichts der allgegenwärtigen Militärkolonnen auf den Straßen, der Carabinieri in höchster Alarmbereitschaft, der Straßensperren, Durchsuchungen und Festnahmen, war dieser Gedanke in immer weitere Ferne gerückt.
Die Ausbildung bei den Sprengstoffexperten der paramilitäri schen Neonazigruppen von jenseits der Grenze hatte sich gelohnt, denn dieses Mal waren die Sprengladungen perfekt angebracht worden, und von dem stämmigen granitenen Wastl, dem glücklosen Botschafter der Humanität Italiens und seiner treuen Alpini, blieb kaum noch etwas übrig.
Die Zeiten hatten sich geändert, seit es ihn das letzte Mal erwischte, und nun konnte niemand mehr den Anschlag als Dumme-Jungen-Streich abtun. Der Täter aus den Reihen des neuen gewaltbereiten BAS, der sich zu dem Anschlag bekannte, wurde zu siebzehn Jahren Haft verurteilt und galt fortan als »Staatsfeind Nummer eins«. Die Verurteilung erfolgte allerdings in Abwesenheit, denn der Mann war flüchtig.
Ein Leben wie auf der Flucht, das war es, was Peter schon als kleiner Junge gesucht hatte, wenn er allein durch die Wälder und über Geröllfelder gestreift war und die Einsamkeit seine wahre Seele wie einen von der Schale befreiten Nusskern zum Vorschein kommen ließ. Auch später hielt er sich am liebsten fern von den Menschen in der Natur auf, wo ihm alles vertraut war: die perfekt ypsilonförmigen Hasenspuren; die Mur meltiere, die ausgemergelt und unsicher nach dem langen Fasten in die Junisonne blinzelten und dann im September, wohlgenährt nach dem großen Fressen im Sommer, mit Hinterteilen, so rund wie gewindelte Säuglinge, pfeifend und Purzelbaum schlagend herumturnten; die vom Oktoberlicht vergoldeten Lärchennadeln, die der erste Nordwind als Vorbote des Winters von den Bäumen niederregnen ließ; die waagerechten Pupillen des Steinbocks, in dessen Blick Peter keinerlei Vorwurf erkannte, obwohl seine Kugel ihn im nächsten Moment töten würde. Und über all das hinaus galt es nun eine Mission zu erfüllen: Die Heimat hatte ihn gerufen, und er musste eine Antwort geben. Eine Antwort, die auch auf alles andere passte.
Ausrüstung, Lebensstil und Tagesablauf waren nicht anders als zu der Zeit, als er nur Jäger gewesen war. Schuhe bis über die Knöchel, Strümpfe bis zu den Knien, ein Fernglas um den Hals, Schirmmütze, Rucksack, Seil, Gewehr. Seit einigen Wochen nannten er und seine Gefährten eine Aushöhlung im Fels ihr Zuhause, grünliches Granitgestein, das die Feuchtigkeit hatte dunkel werden lassen, die offenen Seiten mit belaubten Zweigen getarnt. In dieser Höhle war es gemütlich. Aus grob behauenen und zusammengebundenen Ästen hatten sie sich Bänke und eine Art niedrigen Tisch gebaut. Nägel in der Wand dienten als Kleiderhaken, der Bach, der in der Nähe floss, war ihnen Badewanne, Dusche und Waschbecken in einem. Eine zuverlässige Frau, die ihre Aktionen guthieß – anders als Leni, die nicht wusste, was wirklich zählte –, stieg hin und wieder vom Tal zu ihnen herauf, auf verschlungenen Pfaden, damit ihr niemand folgte, und brachte ihnen Töpfe mit fertig gekochtem Essen, Tüten mit Lebensmitteln, Flaschen und Zigaretten. Auf Dauer war dies zu riskant, und so versorgten sie sich größtenteils allein jenseits der Grenze, wo sie nicht verfolgt wurden und sogar im Laden einkaufen konnten.
Einige Zeit zuvor war der Mann aus Bayern wieder bei ihnen aufgetaucht, ein Chemiker mit plumpen Beinen, der um Luft rang nach der Anstrengung, die ihn der Aufstieg gekostet hatte. Seine dicken Schenkel ließen an riesengroße Säuglinge denken, doch seine Finger verrichteten ihre Arbeit leicht und flink. Auch er versorgte sie mit einem überlebenswichtigen Rohstoff, der jedoch nichts mit Nahrung zu tun hatte: Draht, Zündschnüre, Zünder. Geduldig hatte er ihnen noch einmal erklärt, wie das alles funktionierte.
Aber lange geblieben war er nicht. Dem Abenteurerleben konnte der Bayer nichts abgewinnen, da fühlte er sich völlig fehl am Platz – er, ein Mann von Kultur, ein Intellektueller, ein Städter. Und wenn es in Südtirol endlich zum offenen Krieg kam, würden auch diese Hinterwäldler, die wie Ziegen stanken und wie Neandertaler in Höhlen hausten, begreifen, dass er und seinesgleichen, die Alldeutschen jenseits der Grenze, dazu bestimmt waren,
Weitere Kostenlose Bücher