Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
in die Luft gesprengt worden. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr entrüstet, sondern steif und verlegen. Aber es war ja auch nicht leicht, der Schwester eines Mannes sein Beileid zu bekunden, durch dessen Tod die geplante Ermordung von fünf Kameraden verhindert wurde. Gerda war, als explodiere in ihrer Brust noch einmal die Bombe, die ihren Bruder zerrissen hatte. Ihr Herzschlag, ihr Atem, selbst das Wachsen der Haare und Fingernägel, alles stockte.
Auch der Soldat, der neben dem Schreibtisch stand, war derselbe wie beim letzten Mal. Bemüht, aber unbeholfen beugte er sich zu ihr hinunter und fragte, ob sie verstanden habe. Gerda schloss die Lider, was er mit Recht als ein Ja deutete. Er bot ihr ein Glas Wasser an, doch sie wandte den Kopf zur Seite: »Nein.«
Wegen der Identifizierung der Leiche brauche sie sich keine Gedanken zu machen, erklärte ihr der Offizier, das habe schon die Ehefrau des Verstorbenen übernommen. Gerda wäre jetzt gerne aufgestanden, aber sie wusste nicht mehr, wo ihre Beine und ihre Hände waren, vorübergehend hatte sie jedes Gefühl für ihren Körper verloren. Als sie ihre Glieder wieder spürte, stand sie auf und ging wortlos hinaus, sich bei jedem Schritt an der Wand abstützend.
Der Carabiniere lief ihr nach, und genau dort auf dem Gehweg, wo er sie beim letzten Mal zum Tanzen eingeladen hatte, erreichte er sie und sagte:
»Mein Beileid.«
Sie blickte ihn an, als suche sie nach etwas. »Einmal hat er mit mir …«, begann sie auf Italienisch, »einen …, einen … Ausflug gemacht«, fiel ihr nur das deutsche Wort ein. »Wie sagt man da?«
Der Soldat verstand ein paar Brocken Deutsch, doch dieses Wort, Ausflug, hatte er noch nie gehört. Er schüttelte bedauernd den Kopf.
Starr und kerzengerade wie das Wachhäuschen vor der Kaserne ging Gerda davon. Denn ihr war klar: Nur wenn sie den Kopf nicht senkte und auch die Schultern nicht hängen ließ und ihre Schritte keine Schlangenlinien beschrieben, würde sie es zurück zum Hotel von Frau Mayer schaffen.
Sie war schon fast hinter dem Gebäude verschwunden, da fiel es dem Carabiniere ein.
Gita.
Das italienische Wort für »Ausflug« war gita .
Peter wurde nicht auf dem Hauptfriedhof der Kleinstadt beerdigt, sondern auf dem winzigen Kirchhof bei den wenigen Häusern, die sich um den Zwiebelturm am Nordhang des Berges drängten.
Die Lebenden hatten sich den Toten gegenüber großzügig gezeigt und für den von einer niedrigen Mauer eingefassten Friedhof, der sich wie eine winzige Seele in die imposante Weite der Gletscherwelt hineinschob, eine der kostbaren ebenen Flächen dieses steilen, fast senkrecht abfallenden Geländes geopfert. Seit Jahrhunderten war dies die letzte Ruhestätte der Hubers. Hier wurden auch die nachgeborenen Kinder, jene Söhne und Töchter also, die durch das harte Gesetz des »geschlossenen Hofes« vom heimatlichen Anwesen vertrieben worden waren, damit sie anderswo ihr Glück versuchten, nach ihrem Tod wieder aufgenommen. Denn ein Friedhof war kein Weideland, dessen Aufteilung nach wenigen Generationen alle in den Ruin geführt hätte. Auf einem Friedhof wurden Erinnerungen und Identitäten bewahrt, Heugarben, die nicht weniger wurden, auch wenn alle sie teilten. Hier hatte man Hermanns Eltern zur ewigen Ruhe gebettet, nachdem die Spanische Grippe sie gleichzeitig in einer Nacht hinweggerafft hatte. Hier ruhte Johanna, und neben ihr war der Platz für ihren Ehemann frei gehalten. Und hier wurde auch Peter beerdigt.
Die Zeit der großen Trauerfeiern für die »Bumser« war schon eine Weile vorüber. An der Beerdigung des sanften Idealisten Sepp Kerschbaumer, der bald nach dem Mailänder Prozess in der Haft gestorben war, hatten noch Zehntausende von Südtirolern teilgenommen. Diese neue Generation von Terroristen aber, die nicht mehr nur Hochspannungsmasten oder faschistische Denkmäler, sondern auch Menschen in die Luft jagten – selbst wenn es » nur « Uniformierte waren –, konnte kaum noch jemand verstehen. Sie töteten und verwundeten und verschwanden dann über die Grenze, während die Soldaten ihren auf den Höfen zurückgebliebenen Angehörigen das Leben noch schwerer machten, so wie damals vor etwas mehr als zwei Jahren bei der Razzia, die so viel Staub aufgewirbelt hatte.
Von jenem Tag erzählte man immer noch mit einer Mischung aus Schrecken, Fassungslosigkeit und Erleichterung: War das wirklich an jenem Ort geschehen, wo zuvor nur das Auftauchen eines entlaufenen russischen
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