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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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unpersönlich, reines, lebendiges Fleisch.
    Der Bus aus Bozen hatte unterwegs eine Reifenpanne, und so traf Gerda mit einer halben Stunde Verspätung ein. Außerdem hatte sie auch noch bei den Schwingshackls vorbeigehen müssen, um Eva dort abzuholen. Die war begeistert von dem unerwarteten Besuch, aber auch besorgt, während sie jetzt an Gerdas Hand ging, die sich schwielig anfühlte. Sie hatte Schwierigkeiten, mit den ausgreifenden Schritten ihrer Mutter mitzuhalten. Was sie verwirrte, waren das schöne, zugleich ungewohnt angespannte Gesicht ihrer Mutter, die heute noch kein einziges Mal gelächelt hatte, die betretenen Mienen, mit denen die anderen sie begrüßt hatten, vor allem aber die Erklärung, die man ihr, Eva, gegeben hatte: Die Mutter sei gekommen, um sich mit einem letzten Gruß von Onkel Peter zu verabschieden. Nicht nur, dass sie an diesen Onkel Peter keinerlei Erinnerungen hatte, sie verstand auch nicht, was das bedeuten sollte, dieser »letzte Gruß « . Was, wenn man denjenigen, den man zum letzten Mal grüßte, dann später noch einmal traf? Eva hatte Ulli um Rat gefragt, aber der hatte auch nicht weitergewusst. Deshalb waren sie zusammen zu ihrem Onkel Wastl gegangen, der ihnen die Sache ein für alle Mal erklärt hatte.
    »Wenn man denjenigen, von dem man sich mit einem ›letzten Gruß‹ verabschiedet hat, später noch einmal trifft und der ›Grüß Gott‹ zu einem sagt, muss man sich sofort wegdrehen und so tun, als wenn man es nicht gehört hätte. Wie das Wort ›letzter‹ schon sagt, ist es streng verboten, diesem Gruß noch weitere folgen zu lassen.«
    Im Grunde sei das gar nicht so schwierig, hatte Wastl hinzugefügt, man müsse nur ein wenig aufpassen. Man dürfe sich auch noch mit dem betreffenden Menschen unterhalten und ihn sogar fragen, wie es ihm geht, aber dabei immer achtgeben, dass man weder »Griasti« noch »Servus« oder »Pfiati« und vor allem aber nicht »’fwiedersehaug’n« zu ihm sagt. Nein, »Auf Wiedersehen« zu sagen, das gehe nun wirklich nicht mehr.
    Als sie den Friedhof erreichten, war der Sarg aus Zirbelkie fernholz bereits in der Erde. Gerda blieb etwas abseits stehen und sah den Totengräbern zu, die das Grab zuschaufelten. Ein Schützenkamerad von Peter, so um die dreißig, trat auf sie zu.
    »Dein Bruder war ein Held«, sagte er leise. Aber nicht zu ihr, sondern zum Ansatz ihrer Brüste, die aus der weißen Bluse unter ihrem Trauerkleid hervorschauten. Dann lächelte er ihr zu, als sei zwischen ihnen bereits alles abgemacht, und Gerda schlug die Augen nicht nieder.
    Eva hingegen war verstört. Weil sie zu spät gekommen waren, war dieser Onkel Peter, von dem sie sich mit einem letzten Gruß verabschieden wollten, schon nicht mehr da, und sie hatte sein Gesicht gar nicht sehen können. Wie sollte sie ihn jetzt wiedererkennen, wenn sie ihn noch einmal traf? Wie sollte sie da vermeiden, dass sie ihn versehentlich grüßte oder gar »Auf Wiedersehen« zu ihm sagte?
    Als sie ein wenig später den Friedhof wieder verließen, sagte Gerda zu ihr: »Der da ist dein Opa.«
    Sie hatten noch auf Johannas Grab einen Blumenstrauß in eine Zinnvase gesteckt, auf die ein Herz, das die Buchstaben IHS umschloss, eingraviert war. Während sie sich entfernten, war ein Mann, hochgewachsen, aber zu mager für seinen von Motten zerfressenen Anzug, an das Grab getreten.
    Ohne sich umzudrehen, hatte Gerda den Satz gesagt: Offen bar war sie selbst von dem Verwandtschaftsverhältnis ihrer Toch ter zu »dem da« nicht betroffen. Eva blieb stehen und sah, wie der Mann die Blumen, die sie und Gerda aufs Grab gestellt hatten, aus der Zinnvase nahm und auf den schmalen Weg zwischen den Gräbern warf, auf jenes Niemandsland, das die Toten voneinander trennte. Er hob den Blick und traf den ihren. Da ging sie weiter, das Gesicht zurückgewandt, um ihn beobachten zu können, sodass sie fast über einen Grabstein aus schwarzem Marmor gefallen wäre. Aber sie blieb an der sicheren Hand der Mutter, die unbeirrt auf das schmiedeeiserne Friedhofstor zuging.
    So lernte Eva, was ein Opa war: Ein alter, ausgemergelter Mann, bei dem man, wenn er einen ansah, so traurig wurde, dass man gar nicht mehr leben wollte.
    In dem kleinem Zimmer im Erdgeschoss, in dem Gerda mit Eva außerhalb der Saison wohnte, konnten sie übernachten. Es war zwar Sommerhochsaison, doch in diesem Jahr der Anschläge und Attentate waren weit weniger Touristen als üblich gekommen und viele Gästezimmer leer geblieben. Eva

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