Evas Auge
Windsack, als er sich dem Flugplatz Jarlsberg näherte, im Grunde sah der Windsack aus wie ein benutztes Riesenkondom, wie er da schlapp gegen die Stange schlug, ein Kondom, das ein Gott vom Himmel geworfen hatte. Sejer hielt an, schloß das Auto ab und nahm den Fallschirm aus dem Kofferraum, seinen Anzug hatte er in einer Plastiktüte. Es war ein hervorragender Tag, vielleicht springe ich zweimal, überlegte er, und dann entdeckte er etliche von der jüngeren Garde, die sich an ihrer Ausrüstung zu schaffen machten. Ihre lila und roten und türkisen Springanzüge waren so eng wie Schlittschuhlauftrikots, und ihre Schirme sahen in fertig gepacktem Zustand aus wie kleine Picknickrucksäcke.
»Kauft ihr diese Klamotten in der Sprühdose?« fragte Sejer und musterte die dünnen Knabenkörper; jeder Muskel – oder das Fehlen eines solchen – zeichnete sich deutlich durch den hauchdünnen Stoff ab.
»Genau«, antwortete ein Blondschopf. »Mit so einem Sechspersonenzelt kriegst du doch kein Tempo!«
Er sprach von Sejers Overall. »Aber bei deinem Job hast du vielleicht Tempo genug?«
»Das kannst du wohl sagen. Der hier bremst ganz brauchbar.«
Sejer ließ Anzug und Schirm auf den Boden fallen, hielt sich schützend die Hand über die Augen und blickte zum Himmel hoch.
»Womit fliegen wir heute?«
»Mit der Cessna. Fünf auf einmal, und die Alten springen als erste. Hauger und Bjørneberg kommen später, mit denen kannst du dich vielleicht zu einer kleinen Dreierformation zusammentun? Ihr seid doch sicher in derselben Gewichtsklasse. Sonst verlierst du noch die Übung.«
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Sejer trocken. »Aber Händchenhalten kann ich auch auf dem Boden. Eines von den Dingen, die mir da oben gefallen«, er nickte in Richtung Himmel, »ist die Einsamkeit. Und die ist da oben wirklich gewaltig. Das wirst du auch noch verstehen, wenn du älter bist.«
Sejer konnte sich für Formationsspringen ungefähr ebenso begeistern wie für Synchronschwimmen. Er zog sich am Automaten eine Cola und setzte sich erst einmal auf das Packtuch. Er trank langsam, achtete darauf, nichts zu vergießen, und schaute den Springern zu. Zuerst kam eine Runde Springschüler. Sie sahen aus wie waidwunde Krähen, als sie mit den seltsamsten Bewegungen auf dem Boden auftrafen. Der erste landete mit dem Kinn zuerst draußen auf dem Feld, der zweite traf die Tragfläche eines exklusiven Modellflugzeuges, das im Gras herumsurrte. Sie mußten den Flugplatz mit dem Modellflugklub teilen, ein ewiger Konflikt, der ab und zu zum Krieg zu werden drohte. Jetzt waren Flüche und Beschimpfungen zu hören. Keine einzige perfekte Landungsrolle war zu sehen. Wenn man von einem Küchenstuhl springt, ist das verdammt einfach, überlegte Sejer, so übten sie nämlich, sie sprangen zehn-oder fünfzehnmal von einem Küchenstuhl, machten eine Rolle und waren wie nichts wieder auf den Beinen. Die Wirklichkeit war anders. Er selber hatte sich beim ersten Mal den Knöchel gebrochen, und Elise hatte gelächelt, als er mit dem Gipsverband um den Fuß in die Küche gehumpelt war, durchaus nicht boshaft, aber sie hatte ihn vorher nun einmal gewarnt. Ansonsten war er billig davongekommen, fast schon zu billig. Bei seinen zweitausendsiebzehn Sprüngen hatte er nicht ein einziges Mal an der Reserveleine ziehen müssen, und gerade das beunruhigte ihn. Das passierte nämlich allen, und früher oder später würde auch er an die Reihe kommen. Vielleicht ist es heute so weit, dachte er jedesmal, wenn er sich auf den ersten Sprung vorbereitete. Er durfte einfach nicht vergessen, daß er früher oder später an der Leine ziehen, zum blauen Himmel hochblicken und feststellen würde, daß über ihm kein Schirm hing. Daß der blaugrüne Schirm fehlte, den er seit fünfzehn Jahren benutzte, ohne je einen Grund zu sehen, ihn durch einen neuen zu ersetzen.
Er stand auf und legte die Flasche ins Auto. Betrachtete die träge Landschaft, die hier unten auf dem Boden langweilig und flach wirkte, die sich aus der Höhe von zehntausend Fuß jedoch in ein schönes Bild in Pastellfarben verwandelte. Die Luft war kristallklar, die Sonne ließ die Wagenfenster funkeln. Er zog den blauen Overall an, schnallte sich den Schirm auf den Rücken und schlenderte langsam auf das weißrote Flugzeug zu, das gerade langsam zur Landung ansetzte. Zwei Jungen und ein Mädchen von vielleicht sechzehn stiegen als erste ein. Er selber blieb bei der Tür sitzen, sie preßten sich
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