Evas Auge
können, und sein Gesicht zeigte wieder den gewohnten Ausdruck.
»Doch, er schwamm ja schließlich mitten in der Stadt herum. Sicher ist er von mehreren gesehen worden. Und bei uns geht es manchmal ziemlich hektisch zu, vor allem kurz vor dem Wochenende, das muß ich zugeben.«
Er log, so gut er konnte, und wunderte sich über diesen seltsamen Zufall. Aber war es wirklich ein Zufall?
Er plauderte noch so lange wie nötig mit Magnus. Nippte ab und zu an der Limonade, rührte die Erdnüsse jedoch nicht an.
»Und jetzt haben Sie also zwei unaufgeklärte Morde?«
Magnus blies auf einen Tropfen Klebstoff und griff nach einem Kniegelenk aus dünnem Furnier.
»Ja, richtig. Ab und zu fügt der Zufall es so, daß wirklich niemand irgend etwas gehört oder gesehen hat. Oder sie halten es nicht für wichtig. Entweder werden wir von PR-geilen Leuten mit jeder Menge verdächtiger Beobachtungen überrannt, oder sie haben solche Angst, sich zu blamieren, daß sie lieber den Mund halten. Die seriöse Schicht dazwischen ist dagegen ziemlich dünn. Leider.«
»Das ist ein Anatosaurus«, lächelte Magnus plötzlich. »Zwölf Meter lang. Zweitausend Zähne, und ein apfelsinengroßes Gehirn. Konnte auch schwimmen. Was für eine Vorstellung, so einem Heini im Wald zu begegnen!«
Sejer lächelte.
»Wissen Sie«, sagte Magnus, »diese Ungeheuer aus der Vorzeit haben unsere Gesellschaft dermaßen unterwandert, daß ich mich nicht wundern würde, wenn plötzlich so einer den Schornstein vom Dach risse.«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe einen vierjährigen Enkel.«
»Na«, schloß Magnus, »ich gehe davon aus, daß Eva nach besten Kräften geholfen hat. Die beiden waren doch enge Freundinnen. Sie wären sicher füreinander über Leichen gegangen.«
Ja, vielleicht, dachte Sejer. Vielleicht ist gerade das der Fall.
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A ls er wieder im Auto saß, und Kollbergs gewaltige Wiedersehensfreude sich etwas gelegt hatte – er führte sich auf, als sei Sejer seit ihrer letzten Begegnung mindestens am Südpol gewesen – wußte Sejer, daß Magnus jetzt seine Exfrau anrief. Und genau das, dachte er, ist eigentlich schade. Er wäre gern unerwartet gekommen. Aber viel Zeit hatte sie nicht, er brauchte nur fünfzehn Minuten für die Fahrt von Frydenlund nach Engelstad. Er hätte erst auf der Wache überprüfen sollen, ob Eva vielleicht doch angerufen haben könnte, und das aus irgendeinem Grund nicht registriert worden war. Aber er hielt einen solchen Patzer nicht für möglich. Alle einigermaßen zurechnungsfähigen Polizeibeamten wußten doch, daß nicht selten der Täter selber anrief, und deshalb baten sie immer um Namen und Adresse. Und wenn die Anrufer die nicht nennen wollten, dann wurde der Anruf mit Datum, Uhrzeit und Geschlecht als »anonym« ins Protokoll eingetragen. Sejer fuhr in gleichmäßigem Tempo und gab keine Sekunde der Versuchung nach, etwas zuzulegen. Vielleicht konnte er sie doch noch mitten im Gespräch mit Jostein Magnus erwischen, während sie sich noch wand und sich den Kopf nach einer brauchbaren Entschuldigung zerbrach. Denn wer, überlegte er, findet im Fluß eine Leiche, zuckt mit den Schultern und geht zum Essen ins McDonald’s?
Zum Spaß griff er zum Funktelefon und wählte die Nummer des Hauses, das er gerade verlassen hatte. Dort war besetzt.
Als er in ihre Straße abbog, sah er das dunkle Haus und den leeren Hof. Evas Auto war fort. Er blieb eine Weile stehen und schluckte seine Enttäuschung herunter. Nun gut. Die Vorhänge waren noch da, ausgezogen war sie also nicht, tröstete er sich. Dann ließ er den Motor wieder an und fuhr los, schaute auf die Uhr und entschied sich für einen raschen Besuch auf dem Friedhof. Er war oft dort, sah, wie die Schneeflecken immer kleiner wurden, und machte seine Pläne, was er in diesem Frühling pflanzen wollte. Vielleicht Aurikeln, überlegte er, die würden gut zu dem blaulila Krokus passen, der sich jederzeit öffnen konnte, wenn es nur endlich, endlich ein bißchen wärmer würde.
Die Kirche war groß, imposant und ziegelrot, sie thronte selbstsicher auf einer Anhöhe über der Stadt. Sejer hatte sie nie besonders gut gefallen, für seinen Geschmack spielte sie sich ein wenig zu sehr auf, aber er hatte Elise nur hier bestatten können. Ihr Grabstein war aus rotem Thulit, und die einzige Inschrift war ihr Name, Elise. In ziemlich großen Buchstaben. Ohne Geburts-und Todesdatum. Denn dann wäre sie auf irgendeine Weise nur eine von vielen gewesen, so kam
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