Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
wieder orangefarbene Baustellenkegel standen. Auf dem Seitenstreifen waren verlassene Autos abgestellt, deren Tankdeckel offen standen, weil Flüchtende versucht hatten, Benzin abzusaugen. Alles fühlte sich vertraut an, mehr nach einem Zuhause als alles andere – selbst als der Palast, meine Suite, die Schule.
»Ich habe das alles fast zehn Jahre lang nicht gesehen«, sagte Beatrice. »Es ist schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte.«
Auf dem Vordersitz saßen zwei Soldatinnen. Die Fahrerin, ein junges blondes Mädchen mit einem ovalen Muttermal auf der Wange, suchte den Horizont nach Anzeichen herumstreifender Banden ab. »Ich finde es wunderbar«, sagte ich atemlos und starrte auf die lila Wildblumen, die aus den Rissen eines ehemaligen Parkplatzes sprossen. In der Ferne ragte eine große Fabrik auf, HOME DEPOT stand in verblasster Farbe auf der Seite.
Obwohl wir seit Stunden unterwegs waren, verging die Zeit wie im Flug. Bäume wanden sich umeinander und dem Himmel entgegen. Blumen rankten sich um Fahrradreifen, das Regenwasser sammelte sich in Schlaglöchern und bildete flache, trübe Pfützen. Der zweite Jeep fuhr direkt hinter uns, rumpelte über die gleichen Erhebungen im Asphalt, bremste, wenn wir bremsten, und gab uns Rückendeckung.
Wir würden wieder durch die Wälder ziehen. Die verlassenen Hütten und Läden würden Caleb und mir Schutz bieten auf unserem Weg gen Osten – fort von der Stadt, den Schulen und den Lagern. Der Plan nahm Gestalt an. Am Morgen meiner Hochzeit, wenn ich im Zickzack durch die verstopften Straßen der Stadt laufen und in der Menge abtauchen würde, übernähmen die Dissidenten mithilfe ihrer Kontaktperson im Gefängnis Calebs Befreiung.
Danach würden wir durch den Tunnel gehen, die Stadt verlassen und abwarten. Wir würden an der Ostgrenze des Landes leben, die nicht so oft von Soldaten aufgesucht wurde. Wir würden mit dem Pfad in Kontakt bleiben, bis die Dissidenten die Mobilmachung organisiert hatten, bis die nächsten Schritte geplant waren. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich das Gefühl, dass mein Leben ein Ziel und ich alles im Griff hatte. Die Zukunft war nicht nur eine Abfolge von Abendessen und Cocktails und öffentlichen Ansprachen, von Lügen, die mit einem starren aufgesetzten Lächeln vorgetragen wurden.
»Da vorn ist es«, sagte die Soldatin auf dem Beifahrersitz und deutete auf die hohe Steinmauer. Sie war kleiner als die andere Soldatin, ihr Maschinengewehr lag quer auf ihren muskulösen Beinen. Der König ließ uns von seiner Frauentruppe begleiten, weil er wusste, dass Schulleiterin Burns niemals Männer auf das Schulgelände lassen würde.
Beatrice drückte meine Hand. »Vor der Epidemie waren das Jugendstrafanstalten.« Sie deutete auf die scharfkantigen Drahtrollen auf der Mauer. »Darin befanden sich Zellen für straffällig gewordene Kinder.«
Der Regen prasselte auf den Wagen. Als wir die Mauer erreichten, tauschten die Soldatinnen Unterlagen mit den Wächterinnen vor dem Tor aus, deren Uniformen vollkommen durchnässt waren. Nach einigen Minuten durften wir passieren. Der Jeep fuhr vor dem Steingebäude vor, in dem ich zwölf Jahre lang meine Mahlzeiten zu mir genommen hatte.
Sobald wir auf dem Gelände waren, legte sich die Aufregung der Reise. Ich starrte über den See auf das fensterlose Gebäude, den Ort, wo Pip, Ruby und Arden gefangen gehalten wurden. Das Essen rumorte in meinem Magen. Ich sah zu dem Gebüsch neben der Mensa, zu den Büschen mit dem flachen Graben darunter. Genau an dieser Stelle hatte ich Arden an dem Abend entdeckt, als sie geflohen war. Als sie mir die Wahrheit über die Absolventinnen enthüllt hatte.
Meine Vergangenheit umgab mich – die Schule, der Rasen, der See, alles erinnerte mich an mein früheres Leben. Durch den Regen konnte ich das Bibliotheksfenster im dritten Stock erkennen, wo Pip und ich gelesen hatten. Manchmal hatten wir unsere Lektüre allerdings unterbrochen, um die Spatzen draußen zu beobachten. Der Apfelbaum auf der anderen Seite des Geländes stand auch immer noch da. Unter ihm hatten wir im Sommer den Schatten genossen. An der Stelle, wo wir immer Hufeisen geworfen hatten, ragte nach wie vor die Metallspeiche aus der Erde. Einmal war ich darüber gestolpert und hatte mir das Schienbein aufgerissen.
»Ich habe das Gefühl, dass …«, setzte Beatrice an und spähte durch die Scheiben voller Regentropfen. Die Soldatinnen stiegen aus, um mit den Schulwächterinnen zu reden. »… dass
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