Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
stehen. Leere Billigcolaflaschen gibt es eine Menge hinter dem Plumpsklo. Ich werde aber sicherheitshalber noch einmal nachsehen, nehme ich mir vor.
„Natürlich Männerbesuch. Einer ist sogar mit einem Riesenauto gekommen, einem Mercedes oder so etwas, aber einem ganz großen. Und auch ein Junger war da. Total tätowiert war der.“
Besser, ich bremse die Alte etwas ein. Vielleicht erinnert sie sich dann an etwas, das mit der Realität zu tun hat. „Und Sie haben genau gesehen, dass es Männer waren? Der Junge könnte ihr Sohn gewesen sein.“
„Wer das glaubt … Natürlich waren es Männer. Nur Männer. Das heißt bis auf die Frau in dem Geländewagen. Ich hab sie nicht gekannt, vielleicht war sie von so einer Organisation, die sich um Verwahrloste kümmert. Da gibt’s reiche Frauen, die machen so etwas ehrenamtlich, haben ja auch genug Zeit dafür. Oder sie war auch eine … Jedenfalls: Seit die Wienerin da eingezogen ist, habe ich immer abgesperrt bei mir. Ich lebe ja allein, mein Mann hat mich schon vor Jahren verlassen.“
Kein Wunder, denke ich, merke dann aber, wie sie verträumt nach oben blickt.
„Richtung …“ Ich deute zum Himmel.
„Natürlich, was glauben Sie denn? – Früher hat man bei uns nie absperren müssen.“ Sie sieht mich vorwurfsvoll an.
„Die Tante Ihrer Nachbarin war von hier. Sie ist vor etwas mehr als einem Jahr gestorben, oder?“
„Das war doch nie im Leben ihre Tante. Pauline war eine ordentliche Person. Arm, aber ordentlich. Ich hab ihr auch immer das Obst abgekauft und die Paradeiser, die sie gezogen hat. Jetzt ist alles verwildert.“
„Am Tag, an dem Ihre Nachbarin gestorben ist: Hat sie da auch Besuch gehabt?“, versuche ich sie wieder zurückzuleiten.
„Ja, hat sie. Der Polizist hat mich das schon gefragt. Der Tätowierte war da. Es soll ja auch Junge geben, denen … na denen eben dicke Frauen gefallen. Ich hab davon gelesen.“
Ich will schon fragen, wo sie das denn gelesen habe, lasse es aber lieber bleiben.
„Und dann ist die Postbotin gekommen. Und die hat sie gefunden. Weil sie ja nicht einmal einen Briefkasten gehabt hat, hat sie ihr die Post immer hineingebracht. Dabei hat sie eh so viel zu tun.“ Die Nachbarin bekreuzigt sich.
„Sie sehen häufig aus dem Fenster?“, frage ich vorsichtig.
„Was denken Sie denn? Dass ich nichts Besseres zu tun habe, als Leute zu beobachten? Natürlich nicht. Wenn ich was sehe, ist es nur Zufall. Dabei hätte es da nebenan sicher noch viel mehr zu sehen gegeben. Aber ich bin eine anständige Frau.“
„Natürlich“, sage ich so überzeugt wie möglich. „Bevor die Postbotin die Tote gefunden hat: Haben Sie da zufällig länger aus dem Fenster gesehen? Wann war der Tätowierte da?“
„So genau kann ich das nicht sagen. Sind Sie auch von der Polizei? Wahrscheinlich hat sie etwas ausgefressen. Und der Tätowierte auch. War das gar ihr … Zuhälter, wie man so sagt? Ich arbeite gern mit der Polizei zusammen, ich habe nichts zu verbergen. Das mit dem Hauskauf war nur ein Trick, nicht wahr?“
Soll sie ruhig glauben, dass ich von der Polizei bin. „Und deswegen muss ich wissen, was Sie in den Stunden, bevor die Postbotin die Leiche entdeckt hat, gesehen haben.“
Sie schaut mich bedauernd an. „Die Post kommt jetzt ja immer so spät. Da war schon die Barbara Karlich Show im Fernsehen. Unglaublich, wie die Welt heute ist. Die reden da über Sachen, die hätten wir uns nicht einmal zu denken getraut.“
Ich sage es laut und langsam: „Wer war da? Wann war der Tätowierte da? Hatte er ein Fahrzeug? Welches?“
„Das hat mich Ihr Kollege auch schon gefragt. Ja, der Tätowierte war da.“
„Wann?“
„Das weiß ich nicht genau.“
„Sind Sie sicher, dass es an diesem Tag war?“
Sie zögert. „Aber natürlich“, sagt sie dann und funkelt mich an. „Oder glauben Sie mir etwa nicht?“
„Haben Sie ein Fahrzeug gesehen?“
„Fahrzeug … eigentlich nicht …“
Ich seufze und verabschiede mich. Nur noch ein rascher Blick ins Haus. Damit ich weiß, was ich von dem halten soll, was die Nachbarin von sich gegeben hat. Wenn der Tätowierte Roger war und wenn er am Tag, an dem seine Mutter ums Leben gekommen ist, wirklich hier war, dann hat er gelogen. Welchen Grund hätte er gehabt, zu lügen? Inzwischen ist es dämmrig geworden. Keine Ahnung, ob das Licht funktioniert. Sicherheitshalber hole ich die Taschenlampe aus dem Auto. Ich suche in der Küchenkredenz. Keine Weinflasche, keine
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