Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
zu groß für eine Maus. Ich versuche es zu erriechen. Aber da ist nur der Geruch nach Moder und Spinnweben und Staub und altem Stroh. Ich zwinge mich, es noch einmal anzufassen. Das glatte Fell geht in einen regenwurmähnlichen Schwanz über. Es stellt mir die Nackenhaare auf. Eine tote Ratte. Ich habe eine tote Ratte berührt. Da hat wohl irgendjemand Gift gestreut. Man hört so viel von Leichengift. Bin ich vergiftet? Ich wische mir die Hände, so gut es geht, an den Jeans ab. Mir ekelt. Ich wusste nicht, dass ich mich vor Ratten ekle. Eine Schulfreundin hatte eine weiße Ratte namens Leo, ich hab sie recht nett gefunden. Ich habe eine tote Ratte angefasst. Mein Kopf ist am Zerplatzen. Vielleicht gibt ihm dieser Gedanke den Rest. Ich mache noch eine Erhebung im Strohboden aus, weiter drüben. Jetzt greife ich den Gegenstand nicht an, ich stupse mit dem Fuß dagegen. Das scheint das Tuch zu sein. Ich hebe es auf, tappe zurück zum Arbeitstisch, taste nach der Sägescheibe oder was immer das ist, finde sie, schneide mich dabei noch einmal. Offene Wunde und Leichengift. Keine Zeit für Hysterie. Durchatmen. Ich packe die scharfe Scheibe vorsichtig zur Hälfte in das Tuch, gehe wieder Richtung Tür. Ich versuche die Scheibe zwischen Türe und Bretterwand zu zwängen. Es geht. Die Scheibe blitzt im Mondlicht auf. Langsam nach oben schieben. Mein Herz rast. Wenn da einer ist … vielleicht ist er eingeschlafen … und ich habe die scharfe Scheibe. Ich muss sie ihm ins Gesicht stoßen. Ohne nachzudenken. Kann ich das? Wenn ich es tun muss, um zu überleben … vielleicht. Ich werde es tun. Ich werde es tun. Ein Widerstand. Ich scheine beim Riegel angekommen zu sein. Mit äußerster Konzentration drücke ich fester nach oben. Ich spüre, wie er sich mit der Scheibe nach oben bewegt. Ein leises Schaben, als der Riegel aus der Verankerung gleitet. Gleichzeitig geht die Tür eine Handbreit auf. Mondlicht. Ich spähe nach draußen. Hohes Gras und ein verwilderter Holunderbusch. Die Haustür ist zu. Ich halte die Scheibe fest umklammert und öffne die Holztür etwas weiter, sehe in die andere Richtung. Noch mehr Büsche. Der verwachsene Eingang zum Weinkeller. Ich schlüpfe aus dem Schuppen. Da ist keiner. Neben der Tür steht die Schuhschachtel mit den Fotos. Hat er sie übersehen? Hatte sie für ihn keine Bedeutung? Musste er fliehen?
Ich packe die Schachtel und renne Richtung Auto, stolpere über eine Wurzel, kann mich gerade noch fangen, ein Brennen. Das sind nur Brennnesseln. Und dann stehe ich auf der schwach beleuchteten Gasse. Meine Kehle ist staubtrocken, meine Lunge rasselt wie nach einem Marathonlauf, an das Pochen der Beule habe ich mich beinahe schon gewöhnt. Kann man sich an alles gewöhnen? Mit zitternden Fingern drücke ich den Knopf des automatischen Türöffners. Zwei Finger bluten. Es sind Kratzer. Nicht mehr. Ich stelle den Schuhkarton auf den Beifahrersitz und merke erst jetzt, dass ich die scharfe Scheibe mit der linken Hand noch immer umklammere. Ich werfe Scheibe und Tuch einfach in den verwilderten Vorgarten, schließe die Tür, starte. Es ist dreiundzwanzig Uhr. Noch nicht einmal Mitternacht.
Wo ist das nächste Wachzimmer? Ich habe kein Telefon, um den Polizeinotruf zu wählen. Der, der mich niedergeschlagen hat, ist längst weg. Es macht keinen Unterschied, ob heute Nacht oder morgen früh nach Spuren gesucht wird. Vesna. Mist. Ohne Mobiltelefon ist man von aller Welt abgeschnitten. Wie war es zu der Zeit, als es noch keines gab? Es ist gar nicht so lange her. Aber ich kann es mir kaum noch vorstellen. Die Wunden auf meinen Fingern beginnen zu schmerzen. Reagiere ich schon auf das Leichengift? Quatsch. Die Ratte hatte ein Fell. Das Fell war trocken. Wo soll da Leichengift sein? Ist das nicht eine Flüssigkeit? Heim. Ich will heim. Ich fingere in meiner Handtasche. Zum Glück habe ich sie im Wagen gelassen. Teebaumöl. Ich werde mir die Finger mit Teebaumöl desinfizieren. Und was tue ich gegen die Beule? Am besten auch Teebaumöl. Außerdem habe ich sonst nichts. Im Fahren schraube ich den Verschluss des Fläschchens ab, träufle mir Öl über die Finger, es brennt und tut gleichzeitig wohl, dann tropfe ich etwas vom Öl in die Hand und fahre damit vorsichtig über meine Beule. Die Flüssigkeit rinnt mir die Stirn herunter, ein Tropfen kommt zum linken Auge, ich kann ihn nicht mehr rechtzeitig wegwischen. Das Auge brennt wie Feuer, ich kneife es zu, komme beinahe auf die andere Straßenseite. Was
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