Everlasting
meinte, darauf die Ruine der Kirche im Hintergrund gesehen zu haben.
«Wie tief ist der Bodden hier?», fragte ich Rudi.
«Ziemlich flach», sagte er. «Drei Meter, höchstens.»
«Wirklich? Mehr nicht?» Ich war enttäuscht. Dann konnte es nicht hier sein. Meiner Erinnerung nach hatte Rouge gesagt, die Stelle, wo sie den Koffer gefunden hatten, wäre fast sechs Meter tief.
«Aber da drüben, auf halber Strecke zum Festland, gibt es eine andere Stelle.» Rudi zeigte über den Bodden. «Ich zeig sie dir irgendwann mal, vom Boot aus. Wenn nicht dieses Wochenende, dann ein anderes Mal. Da ist er mindestens fünf Meter tief.»
«Aha», sagte ich, und blickte in die Richtung, in die er deutete.
Also doch!
«Außerdem», sagte Rudi, «verändern sich solche Gewässer ständig. Wer weiß, wie es hier in hundert oder zweihundert Jahren aussieht. Wenn die Erderwärmung so weitergeht, ist der Bodden dann vielleicht in manchen Bereichen tiefer. Ich schätze mal, in zweihundertfünfzig Jahren ist die Stelle da drüben an die sechs Meter tief.»
Mir sträubten sich die Nackenhaare. Was deutete er da an?
«Aber wer weiß?», sagte er weiter. «Vielleicht ist dann auch die ganze Halbinsel im Wasser versunken. Fischland-Darß –
futsch
!»
«O nein», sagte ich. «Das wird nicht passieren.»
«Was macht dich da so sicher?», fragte er.
«Intuition.»
Er sah mich einen Moment lang an. Und ich ihn. Seine Augen leuchteten in der Sonne, und ihr Blau war ein erstaunliches Türkis. Ich konnte mich nicht entsinnen, je Augen in genau diesem Türkiston gesehen zu haben, nicht mal in meiner Welt, in der man sich Augen in allen Regenbogenfarben anfertigen lassen konnte. Seine Wimpern waren dicht und sahen beinahe weiblich aus, aber sein Gesicht wirkte ledrig markant, von der Ostseesonne gebräunt und von tiefen Furchen durchzogen.
Er beugte sich näher zu mir. «Eliana hat uns erzählt, dass du deine Familie verloren hast. Vor ein paar Jahren.» Seine Stimme war ruhig, aber es lag eine große Wärme in ihr. «Das muss schrecklich für dich gewesen sein.»
«Das war es», sagte ich, gerührt von seiner Liebenswürdigkeit. «Ist es immer noch.»
«Finn, ich möchte dir sagen, dass du uns jederzeit gern ausleihen kannst, wann immer dir danach ist.» Er lächelte mich an. «Das heißt, falls du eine Familie brauchst.»
Vor Rührung versagte mir die Stimme – ich konnte nur nicken.
Wir saßen eine Weile schweigend da. Ich beobachtete die Bienen, die von Mohnblüte zu Mohnblüte summten, lauschte dem Rauschen der Pappeln im Wind, verfolgte den Kurs der Fähren, die den Bodden durchquerten.
«Das hier ist ein ganz besonderer Ort», sagte ich zu ihm. «Das spüre ich.»
«Habe mir schon gedacht, dass es dir hier gefallen würde. Wir kommen schon immer gern hierher. Madeline ist gern hier geschwommen und hat die Windmühlen beobachtet. Und Eliana liebt die Mohnblumen. Aber Angelika zieht es immer zum Meer. Robert auch. Nächstes Jahr will er nach England segeln. Er ist ein hervorragender Segler. – Und du? Was ist dir lieber?»
«Ich mag beides. Ich bin mit beidem aufgewachsen. Gleichermaßen. Auf Fire Island. Mit einer Bucht und mit dem Meer.»
«Also das Beste zweier Welten, was?»
«Ja», sagte ich. «Absolut. Das Beste zweier Welten.»
Eliana, Angelika und ich planten einen Nachmittag am Meer. Robert entschuldigte sich. «Hab Termindruck», sagte er beim Mittagessen. Im Herbst fing sein Masters-Studium in Biogenetik an, und er fürchtete, schon bald nicht mehr viel Zeit für sein Lieblingsprojekt zu haben. Seit seiner Zivildienstzeit, als er Jugendlichen beigebracht hatte, mit Holz zu arbeiten, war Schreinern eine von Roberts Leidenschaften geworden. In dem Geräteschuppen hinterdem Haus baute er einen Tisch für seine neue Wohnung, eine Überraschung für Lisa, die am nächsten Nachmittag, Samstag, zu uns an die Ostsee kommen würde. Das Meisterwerk hatte bislang noch niemand zu Gesicht bekommen. «Heute Abend», sagte er, «wird der Tisch enthüllt, sozusagen als Vorpremiere im Kreis der Familie.»
Die Menschenmassen am Strand waren etwas Neues für mich: Männer und Frauen lagen hier reglos auf dem Sand, rösteten in der Sonne, eine Decke neben der anderen, so eng aneinander, dass man kaum dazwischen hindurchgehen konnte. Der Anblick erinnerte mich an Androiden-Showrooms, wo die verschiedenen Robotermodelle auf den Regalen unter grellen Lampen dicht an dicht ausgestellt wurden.
Angelika bestand darauf, dass
Weitere Kostenlose Bücher