Everlasting
daran, niemals zu den Marines zu gehen.»
«Abgemacht.»
«Hm», sagte sie, schläfrig, aber noch immer mit ihren Gedanken beschäftigt. «Das wäre echt eine traurige Welt, findest du nicht, in der die Menschen überhaupt kein ‹ich› kennen.»
Ich wandte den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. «Ja», sagte ich, «ja, das wäre es. In der Tat.»
Wir küssten uns.
Dann schliefen wir ein, von dem gleichmäßigen Vorwärtsrattern des Zuges in den Schlaf geschaukelt.
Und dann weckte uns der Schaffner. Wir waren in Rostock.
Fischland-Darß war eine Überraschung. Ich kannte die Halbinsel nur aus der Luft – die Swuttles nach Kopenhagen und Oslo flogen darüber hinweg. 2265 würde sie eines der letzten Areale Nordeuropas sein, die noch ausgebaut und besiedelt werden mussten. Aber jetzt, sieben Jahre vor dem Beginn des Dark Winter, im August 2011, war sie ein lebendiges, blühendes Ferienparadies. Ein bisschen altertümlich vielleicht, aber nicht ganz unkomfortabel.
Die Familie Lorenz bewohnte eines jener typischen reetgedeckten Fachwerkhäuser, wie sie häufig an der deutschen Ostseeküste zu finden waren. Es hatte der Großmutter von Angelika Lorenz gehört, und als sie kurz nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 starb, hatten Angelika und ihre Schwester Gesine es geerbt. Im Laufe der Jahre hatten die beiden Familien es nach und nach in Eigenarbeit renoviert, und jetzt benutzten sie es gemeinsam als Ferienhaus. Es war ein beliebtes Fotomotiv für vorbeikommende Touristen geworden, die sich von den grün-gelben Fenstern, der kunstvoll geschnitzten Eingangstür, der langen, blassgelb-minzgrünen, halbrunden Eichenbank ebenso bezaubern ließen wie von dem hübschen Garten mit Ringelblumen, Kosmeen, lila Hortensien und Sonnenblumen, die mir bis zur Schulter gingen. Hinter dem Haus gab es nicht nur eine Aussicht auf den Saaler Bodden, sondern auch eine Terrasse, eineWiese, eine Holzhütte für die Fahrräder der Familie, einen großen Geräteschuppen und einen Steg, an dem ein Ruderboot vertäut lag.
Die erste Nacht schliefen wir gut. Ich war erschöpft, und das nicht nur vom Schlafmangel. Der Zeitlag hatte eingesetzt – wir waren immerhin über 250 Kilometer von Berlin entfernt. Rouge hatte mich ermahnt, die vorgeschriebenen Medikamente einzunehmen. Ich tat es. Wer hatte denn schließlich Zeit, müde zu sein? Ich ganz sicher nicht.
Die Familie Lorenz hatte mein Leben für die kommenden vier Tage bis auf die letzte Minute durchgeplant. Rudi Lorenz war als Erster dran. Freitagmittag gingen wir in die Holzhütte hinter dem Haus, um ein passendes Fahrrad für mich auszusuchen. Die beiden Familien zusammen hatten eine ganz schöne Sammlung. Wir fanden eines, mit dem ich gut zurechtkam, und wollten gerade aufbrechen, als ich in einer dunklen Ecke der Hütte ein robust aussehendes schwarzes Köfferchen bemerkte. Ich stutzte. Wo hatte ich es schon mal gesehen?
«Tolles Teil», sagte Rudi, der meinem Blick gefolgt war. «Ein sogenannter ‹Explorer Case›. Wird gern für Expeditionen und Safaris verwendet. Wenn wir segeln gehen, packen wir unsere Laptops rein, Kameras, alles, was wichtig ist. Das Ding ist wasserdicht, staubdicht, luftdicht. Absolut unzerstörbar. Für die Ewigkeit gemacht.»
Mein Herz klopfte wild. Ich kannte das Köfferchen! Ich hatte es auf einem Bild gesehen, das Doc-Doc mir mal geschickt hatte. Das war das Köfferchen, das sie aus dem Bodden gefischt und in dem Elianas Tagebücher überlebt hatten!
Wenige Minuten später radelten Rudi und ich in südlicher Richtung die schattige Straße der Lorenz’ hinunter, den Barnstorfer Weg, auf der rechten Seite vom Bodden und auf der linken von Getreidefeldern gesäumt.
Wir folgten der Straße bis zur Spitze einer kleinen Landzunge und fuhren dann einige Minuten nach Nordwesten, sodass die andere Seite des Bodden wieder zu unserer Rechten lag. Wir sprachen kaum ein Wort, bis wir zu einem Rastplatz mit einer Holzbank kamen. Dort betrachteten wir die Windmühlen in der Ferne und sonnten uns.
Plötzlich überkam mich ein seltsames Gefühl, als wäre ich schon mal hier gewesen oder hätte die Landschaft schon einmal gesehen. Diese Bäume, zwei Pappelgruppen, kamen mir irgendwie bekannt vor. Hinter mir, Richtung Westen, sah ich das Dorf Wustrow mit seinem Kirchturm. Ob ich mich genau an der Stelle befand, wo der Koffer im Bodden gefunden wurde? Ich erinnerte mich an ein Bild, das am Fundort vom Wasser aus aufgenommen worden war, und ich
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